Roman "Bevor ich es vergesse": Abschied vom sterbenden Vater
"Bevor ich es vergesse", der erste Roman von Anne Pauly, wurde auf Anhieb als Lieblingsbuch im französischen Buchhandel gewählt und mit dem Publikumspreis für das beste Buch des Jahres ausgezeichnet.
Man könnte es auch lesen wie ein Lehrbuch für den Abschied vom sterbenden Vater. Alle verschiedenen Stadien werden vorkommen und beschrieben. Zuerst die Fahrt zum Krankenhaus, aus dem die Nachricht kam, zusammen mit dem Bruder. Beide versuchen zu verstehen, was hier geschieht:
Während ich seine Hand hielt, die in meiner langsam kalt wurde, wünschte ich mir von ganzem Herzen, niemals seinen Duft zu vergessen und wie weich seine trockene Haut war. Ich habe mich dafür entschuldigt, dass ich nicht begriffen hatte, dass er tatsächlich im Sterben lag (…) Wir sind noch ein letztes Mal rein, zur Sicherheit. Dann haben wir die Reusen eingeholt, wie er immer sagte. Das Leben, diese Angelpartie. Leseprobe
Die Liebe zu einem schwierigen Vater
Der Vater der Ich-Erzählerin war, vorsichtig gesagt, schwierig. Stück für Stück erfahren wir, dass er gewalttätig gegenüber seiner Familie war, vor allem seiner Frau, und dass er jahrelang offenbar viel zu viel getrunken hat. Beeindruckend an diesem Text ist, mit welcher Liebe die Tochter ihrem Vater begegnet, bereit ist zu verzeihen und ihn beim Sterben zu begleiten. Sie schildert seine Krankheiten, sein immer wieder Angst und Schrecken verbreitendes Wesen, aber sie liebt ihn, denn jetzt ist für sie der Moment gekommen, in dem man verzeiht; auch wenn es da noch einen Vorwurf gibt, dann wird er mit ihm sterben.
Beim Tod des Vaters erinnert sie sich auch an den Abschied von der Mutter, der noch wesentlich schmerzhafter für sie gewesen sein muss. Noch lange Zeit nach ihrem Tod rief sie zuhause an, um ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter zu hören.
Niemand hatte diese Ansage gelöscht, seit sie von uns gegangen war, und man dachte sicher, die Paulys hätten nicht mehr alle Tassen im Schrank, dass sie einen Geist ihre Nachrichten entgegennehmen ließen. Aber uns gefiel es, dass wir sie immer noch von Zeit zu Zeit hören konnten (…) Wir brauchten ihre Stimme, in der alle Freundlichkeit der Welt lag. In den Momenten unseres Lebens, in denen wir uns aus Bequemlichkeit der Verzweiflung hingaben, rüttelte sie uns auf, ermahnte uns, die Schultern zu straffen und unser Bestes zu tun. Leseprobe
Die Schritte des Abschieds
Nach dem Tod des Vaters müssen Tochter und Sohn den Nachlass betreuen, den Haushalt auflösen. Jeder Mensch, der das schon einmal gemacht hat, weiß, dass man darüber verzweifeln kann.
Jetzt wusste ich, was das für ein Ozean war, den ich mit einer Pipette leeren durfte (…) Leseprobe
So kommt es einem vor. Einen Ozean mit einer Pipette leeren. Vielleicht schafft man es nur, wenn man weiß, dass man dabei nicht alles richtig machen kann. Aber es muss rein physisch erledigt werden: Haushalt auflösen, alle Formalitäten erledigen, damit man den nächsten Schritt zum Abschied gehen kann.
Ich habe meine schwarzen Wolken noch eine Weile mit mir herumgeschleppt, aber sie wurden immer kleiner und rissen öfter auf. Leseprobe
Versöhnliches Buch über schwierigen Abschied
Anne Pauly hat ein versöhnliches Buch geschrieben über einen schwierigen Abschied vom Vater, ohne Ekel, ohne Vorwürfe. Manchmal wünschte man sich, man könnte etwas in dieser Art auch leisten: einen Akt solcher Nächstenliebe.
Bevor ich es vergesse
- Seitenzahl:
- 176 Seiten
- Genre:
- Roman Krimi
- Zusatzinfo:
- Aus dem Französischen von Amelie Thoma
- Verlag:
- Luchterhand
- Bestellnummer:
- 978-3-630-87668-9
- Preis:
- 22 €