"Nostalgia": Ein leiser Ton der Trauer und des Überlebens
1969 in Potsdam geboren, vereint André Kubiczek in seiner Biografie zwei Kulturen: Die Mutter war Laotin, der Vater Deutscher. Über die Beziehung der beiden und sein Verhältnis zu seiner Mutter hat er jetzt einen sehr persönlichen Roman geschrieben.
Es ist schon dunkel draußen, als er die Wohnung verlässt. Nichts hat er getan, seit er aus der Schule zurück ist, als auf den Augenblick zu warten, in dem er die Tür öffnen kann, um heute ein zweites Mal aus dem Haus zu treten. Leseprobe
Das denkt ein zwölfjähriger Junge kurz vor Weihnachten 1981. André tritt im grünen Parka vor die Tür, um die Straßenbahn zum Potsdamer Hauptbahnhof zu nehmen. Dort wird er seine Großeltern abholen, die zu den Feiertagen aus dem Harz anreisen. Dieser Weg hinaus, erzählt aus der Perspektive des Jungen, ist eine kleine Reise durch eine beklemmend reale Welt: die DDR. Begleitet von Erinnerungen, Gedanken an die Familie.
André Kubiczeks schonungslose Blicke auf die Welt
Seine Familie ist immer im Ausnahmezustand. Der jüngere Bruder hat eine Behinderung, die Mutter, eine Laotin, hat Rückenschmerzen und wird an Krebs erkranken. Der Vater? So gut wie abwesend, ein Staatswissenschaftler. Die Einsamkeit des Jungen wird mit Händen greifbar. Kubiczeks schonungslose Blicke auf die Welt, sein kleiner Radius, machen den Roman so berührend.
Englisch lernt er mithilfe der Texte seiner Lieblingssongs, die er auf Kassette aufgenommen hat. Die dunkelgrüne C-50 BASF seiner Mutter mag er besonders, nur bei dem Song der Puhdys auf der B-Seite spult er immer vor. Kein Wunder, die erste Zeile lautet: "Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt". Der Junge verdrängt, dass seine Welt bald zusammenbricht, schämt sich manchmal auch für die laotischen Essgebräuche der Mutter.
Es macht schreckliche Geräusche, wenn sie das Fleisch abgeknabbert hat und sich dem Rest widmet, den normale Menschen auf den Knochenteller legen. Manchmal nimmt sie sogar ein abgenagtes Hühnerbein noch mal vom Knochenteller, um es mit ihren Kauwerkzeugen zu bearbeiten. Leseprobe
Coming-of-Age-Roman vom ersten Schritt hinaus
Und neben all den Sorgen, der tiefen Liebe zur Mutter, erlebt der Junge noch Diskriminierung durch seine linientreue Klassenlehrerin und durch Mitschüler. Er sieht für viele nicht "typisch deutsch" aus. Nur Hanka, die Tochter von Freunden seiner Eltern, bleibt auf seinem Weg zur Haltestelle stehen, um zu plaudern.
An Weihnachten bekommt er die heiß ersehnten Langlaufskier - und die Mutter ist im Krankenhaus. Es ist die Lakonie im Ton, sind die Details, die Levi's-Jeans aus dem Westen mit dem amerikanischen Adler am Hintern - den die Lehrerin befiehlt abzuschneiden. Es sind die Alltagssorgen in der späten DDR, der subtile Druck, dieses Vakuum, das die Sprache hemmt. Dem Autor gelingt eine sprachliche Dichte, ein Humor, der diese Jahre auf eine andere Ebene hebt. Ein Coming-of-Age-Roman vom Gehen, vom Ankommen, vom ersten Schritt hinaus.
Ein leiser Ton der Trauer und des Überlebens
Dann wechselt der Autor die Erzählperspektive. Die Mutter übernimmt, die Uhr scheint rückwärts zu gehen. Wie sie 1968 aus Laos im fremden Land ankommt ohne anzukommen, wie ihre Versprecher eine neue Wirklichkeit erzeugen, ist beiläufig konkret und gleichzeitig poetisch geschrieben.
"Ist das Nostalgia?", fragt sie, "dauernd zu sagen: Weißt du noch damals?" "Im Deutschen heißt das Wort 'Nostalgie'", verbessert sie der Ehemann. Leseprobe
André Kubiczek wählt einen leisen Ton der Trauer und des Überlebens, mit dem er - ohne eine Spur "Nostalgie" - die Geschichte zweier Kulturen erzählt, die in seinem Roman zusammenfinden. Auf zerbrechlich-schöne und unwiderstehlich traurige Weise.
Nostalgia
- Seitenzahl:
- 400 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Rowohlt Berlin
- Bestellnummer:
- 978-3-7371-0181-3
- Preis:
- 25 €