Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023: "Gittersee"
Charlotte Gneuß' Debütroman, ausgezeichnet mit dem Jürgen Ponto-Preis, spielt 1976 in einem Dresdner Vorort. Die Welt der 16-jährigen Karin gerät aus den Fugen, als ihr Freund Republikflucht begeht.
Charlotte Gneuß, Jahrgang 1992, hat nicht selbst erlebt, was sie erzählt, und genau das macht den Reiz dieses Romans aus.
Karin, die Ich-Erzählerin, ist 16 und lebt in Gittersee bei Dresden. In ihrer Familie herrscht ein rauer Ton. Karin ist die Einzige, die sich für ihre kleine Schwester Kosenamen ausdenkt: Kakadu, Goldgefunkel. Fast alle in der Gegend arbeiten bei der Wismut, in der Verwaltung, in der Großküche oder, wie Karins Freund Paul, unter Tage, im Uranbergbau. Wir sind in der DDR im Jahr 1976. Eines Tages steht Paul überraschend vor der Tür. Er will Karin zu einem Wochenende überreden, gemeinsam mit einem Freund. Sie weiß, dass die Eltern das nicht erlauben, aber wenigstens zum kurzen Treffen stiehlt sie sich davon und beobachtet, wie Paul im Reifen seines Mopeds Geld versteckt. Er redet sich raus, beschwört sie aber, niemandem von dem Geld zu erzählen. Am nächsten Morgen stehen zwei Uniformierte vor der Tür. Karin muss mit aufs Revier. Das Stichwort "Republikflucht" dröhnt. Paul ist abgehauen.
"Er muss dir das doch erzählt haben. Wem, wenn nicht dir. Ihr habt euch doch geliebt", sagt Pauls Mutter. "Das muss man doch spüren, wenn einer geht, das muss man doch fühlen, wenn sich einer verabschiedet." Leseprobe
Pauls aufgewühlte Mutter redet auf Karin ein, und auch Wickwalz, einer der beiden Uniformierten, der jetzt ständig neben ihr auftaucht. Er äußert Verständnis für ihren Kummer, auch für ihr Misstrauen ihm gegenüber, aber er beteuert, aus lauteren Motiven für diesen jungen Staat zu arbeiten.
Schöne Formulierungen
Charlotte Gneuß verzichtet auf Schlagworte wie Stasi oder MfS; dadurch gelingt ihr, dass man beim Lesen nicht von vornherein Klischees vor Augen hat. Vielleicht möchte Wickwalz wirklich verhindern, dass sie wegen Beihilfe zur Republikflucht belangt wird. Andererseits bedrängt er Karin, den Freund auszuquetschen, der mit Paul unterwegs war, aber dageblieben ist. Sie tut alles, um herauszufinden, wo Paul gelandet ist. Und unterschreibt schließlich eine Verpflichtungserklärung.
Charlotte Gneuß erfindet schöne Formulierungen, wenn sie ihre Heldin draußen herumstromern lässt. So, wie sie die Lichtverhältnisse beschreibt - "die Nacht schlich in die Tage" -, so charakterisiert sie auch ihre Figuren: nicht schwarz oder weiß, nicht Opfer oder Täter, sondern Menschen, die verführbar sind, die sich stark genug fühlen, das Gegenüber auszutricksen und doch scheitern.
Charlotte Gneuß ist eine großartige Erzählerin
Gneuß baut Spannung auf, schockiert, springt vorwärts und trägt Puzzleteile nach. Einmal erzählt Marie, Karins liebste Mitschülerin, von einem Priester, der sich auf dem Marktplatz angezündet hat, um für Glaubensfreiheit einzutreten.
Ob ich das mitbekommen hätte. Ich hatte das nicht bekommen, und Marie ging wieder zu (ihrer Freundin) Marlene, sie tauschten ihre Kleider, färbten ihre Haare und lackierten sich gegenseitig die Nägel. Der Lack stank, wenn er frisch war, und bröselte, sobald er trocknete. Leseprobe
Herrlich normale Teenager-Geschichten, aber auch in diese Beziehungen sickert Misstrauen ein. Wer verschweigt etwas, wer hat etwas verraten? Auch Karin will schließlich ausbrechen aus diesem System - aber erstmal hat ihre kleine Schwester Fieber.
Charlotte Gneuß hat genügend Abstand zu den historischen Ereignissen, und sie weiß viel. Sie konnte ihre Eltern und Großeltern befragen und daraus eine eigene Geschichte erfinden. Sie ist eine großartige Erzählerin.
Gittersee
- Seitenzahl:
- 240 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- S. Fischer
- Bestellnummer:
- 978-3-10-397088-3
- Preis:
- 22 €