"Nadine": Katrin Seddigs hellsichtiges Porträt einer Frau
Für ihren letzten Roman "Sicherheitszone" wurde Katrin Seddig gleich mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Jetzt hat die in Hamburg lebende Autorin ein neues bewegendes Buch veröffentlicht, wieder eine Familiengeschichte.
Viel haben die Autorin und ihre Romanfigur auf den ersten Blick nicht gemein. Und doch sei "Nadine" auch inspiriert durch eigene Erfahrungen, sagt Katrin Seddig: Nadine, die schon als Mädchen in den 1970er-Jahren irgendwie nicht in die Gesellschaft passt, "weil sie zu groß, zu schwer und zu laut ist. Als Mann wäre sie später ein Bär, und solche Bären, die mag man ja. Eine Frau kann heutzutage natürlich viel mehr sein als noch zu der Zeit, als Nadine Kind war, aber Frauen und Mädchen, die so groß und laut sind, und dick vielleicht, die haben es auch heute schwer."
Eine grausame Nachricht wirft Nadine aus der Bahn
Nadine eckt an, Nadine wehrt sich, Nadine haut. Doch sie geht ihren Weg, heiratet, bekommt eine Tochter, heißgeliebt: Mizzi. Die Eltern haben es nicht leicht mit ihr. Aus dem süßen Mädchen wird mit der Pubertät eine Rebellin; sie leidet unter Depressionen, auch Alkohol und Drogen spielen eine Rolle. Doch Mizzi berappelt sich, heiratet, macht sich mit einem Café selbstständig. Ruhe scheint einzukehren. Bis, an einem Augustabend, jemand bei Nadine und ihrem Mann klingelt:
Sie sieht Frank, wie er in der Terrassentür erscheint. Er hat einen Abdruck im Gesicht und will diese Form nun ihr aufdrücken. Sie denkt: Nein, das tust du nicht. Er kommt auf sie zu. Sie kann es nicht verhindern. (...) "Es war die Polizei." Sie will es nicht wissen, aber es bleibt ihr nichts anderes übrig: "Mizzi ist tot. Sie ist unter den Zug gekommen. (...) Sie ist selbst…." Leseprobe
Dieser grausame Moment ist der Ausgangspunkt der Erzählung. Nadine steht unter Schock. Haltlos stopft sie Essen in sich hinein und wird immer dicker. Den Alltag bewältigt sie weiter, versorgt den pflegebedürftigen Vater, mit dem sie eine schwierige Beziehung hat. Auch im Büro, sie arbeitet als Anwaltsgehilfin, nimmt sie sich keine Auszeit.
Katrin Seddig: Eine kluge Beobachterin
Katrin Seddig schürft tief. Eng verwoben mit vielen Rückblenden zeigt sie, welche Geschichten die Figuren hinter sich haben, wie sie geworden sind, was sie sind oder waren. "Ich versuche die Figur zu verstehen und zu beschreiben", erzählt Seddig. "Woher das kommt, ob ich Figuren im Alltag analysiere, ob ich mir die Menschen genauer angucke - das weiß ich nicht. Das ist auch gar nicht in allen Fällen so, aber manchmal, wenn mich etwas interessiert, frage ich sehr hartnäckig nach."
Nadines Mutter verschwindet früh, die Tochter fühlt sich verlassen, der Vater ist mit der Erziehung überfordert und greift oft zu drastischen Maßnahmen. Das hat zur Folge, dass Nadine später außerstande ist, ihrer Tochter Grenzen zu setzen.
Nadine strengte sich sehr an, Mizzi das Leben angenehm zu machen, indem sie es ihren Wünschen anpasste. Sie wusste vielleicht, dass man Regeln aufstellen und ein Kind erziehen sollte, zu seinem eigenen Besten. Aber sie verspürte eine große Abneigung dagegen, sie wollte es nicht und stand der Erziehung aus eigener Erfahrung negativ gegenüber. Leseprobe
Katrin Seddig ist eine kluge Beobachterin, die genau hinsieht und auch beschreibt, wovor manche lieber die Augen verschließen: die schwierige Situation mit den älter und kränker werdenden Eltern, die in Hass kippen kann; die Mitleidlosigkeit derer, die sich für etwas Besseres halten als andere und diese einfach ausschließen. Interessant ist, wie heftig Nadine sich dagegen wehrt: "Sie hat ja ihre Freundschaften in der Schule, die nimmt sie sich einfach. Sie will etwas haben und versucht das zu bekommen. Sie sieht sich selbst gar nicht als Opfer. Und das ist ihr auch sehr wichtig, dass sie nicht um Hilfe bittet. Sie ist nur immer wieder erstaunt, dass sie so behandelt wird oder immer wieder auf Ablehnung stößt."
"Nadine": Nicht immer leicht zu lesen
"Nadine" ist das präzise, hellsichtige Porträt einer Frau, einer Familie, angesiedelt in einer Kleinstadtgesellschaft in den 1970er- bis 2000er-Jahren. Mit Empathie geschrieben und bewegend, aber nicht immer leicht zu lesen. Denn die Wut, die Nadine treibt, dieses so früh verlassene, ausgestoßene Kind, überträgt sich. Auch die Trauer. Das ist auszuhalten. Aber zum Glück hat Nadine Kraft.
Nadine
- Seitenzahl:
- 304 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Rowohlt
- Bestellnummer:
- 978-3-7371-0174-5
- Preis:
- 24 €