"Meinem einzigen Begehren": Ein wahres Feuerwerk der Poesie
Das Pariser Musée de Cluny beherbergt einen wahren Schatz: "Die Dame mit dem Einhorn" - sechs Wandteppiche mit bis heute nicht restlos geklärter Herkunft. Yannick Haenel hat die geheimnisvollen Meisterwerke in seinem neuen Buch beschrieben.
Der französische Schriftsteller Yannick Haenel lockt uns in das Herz dieses mittelalterlichen Museums, wo die berühmten Wandteppiche in einem runden Saal untergebracht sind. Um zu ihnen zu gelangen, muss man einem Pfad durch das ganze Museum folgen, Säle voller Schmuckstücke, Seidenstoffe, Elfenbeinschatullen und italienischen Samtstoffen durchmessen. Ein kleines Schild weist dann den Weg zur Dame mit dem Einhorn. Sie sind zu sechst. Sechs Tapisserien. Rot, blau, gelb, grün, aber vor allem rot und gold. Frauen auf Inseln, eine große weibliche Einsamkeit mit verzaubertem Antlitz. Haenel schreibt:
Du denkst an das Wort "Feinheit", an das Wort "Geheimnis" und (…) an das Wort "Poesie". Du sagst dir, dass sich dir ein poetisches Geheimnis in seinem Entzug darbietet. Es versteckt sich und du überraschst es dabei: der stille Augenblick einer Welt, die sich zurückzieht. Doch du fühlst dich nicht ausgeschlossen, ganz im Gegenteil, du fühlst dich eingeladen. Leseprobe
Yannick Haenels Beschreibungen sind voller Poesie
Die wirklich betörend schönen Frauengestalten auf den Wandteppichen sind von biegsamer, schlanker Statur. Sie heißen: Die Dame mit dem Vogel; Die Dame mit der Musik; Die Dame mit dem Spiegel; Die Dame mit den Blumen; Die Dame mit der Standarte und Die Dame mit dem Schatz.
Haenel beschreibt das Erlebnis, sie zu betrachten, so:
Es gib keine "Fünf Sinne", es gibt deren unendlich viele, so viele, wie es Körper in dir gibt. Und wenn du in das eintrittst, was sich in einem Kunstwerk eröffnet, dann hast du tausend Körper, hundert Ohren, hunderte Arten und Weisen des Berührens, des Schmeckens, des Sehens. Dann wirst du zu einem vibrierenden Grund, in dem sich die herkömmlichen Wahrnehmungsweisen auflösen. Die "Fünf Sinne" werden aufgewirbelt und über ihre Grenzen hinausgeschleudert, getränkt von tausend Einzelheiten verwandeln sie sich in stiebende Funken. Wohin führen Sinneseindrücke? Wohin vergeht das, was man erfährt? Sätze können davon berichten. Leseprobe
Damit Sätze "davon berichten können", muss ein Autor schon so formulieren können, wie Yannick Hanel, der ein wahres Feuerwerk der Poesie entzündet, um diese Wandteppiche zu beschreiben, die vermutlich gegen Ende des 15. Jahrhunderts in flämischen Werkstätten entstanden sind.
"Meinem einzigen Begehren": Eine kleine Kostbarkeit
Auf mehreren der sechs Tapisserien ist das Einhorn zu sehen, einmal hält die Dame dieses Horn zart in der Hand und das Ganze ist eine Mischung aus purer Erotik und hinreißender Schönheit. Yannick Haenel vermittelt eine Schule des Sehens:
Es gibt einen Punkt im Raum, wo sich die Blicke aller sechs Tapisserien der Dame mit dem Einhorn begegnen. Dieser Punkt befindet sich nicht im Saal. Er befindet sich weder im Museum noch im Zentrum irgendeiner Harmonie. Er befindet sich einzig und allein in deinem Leben. Leseprobe
Yannick Haenel führt uns vor, wie viel Erlebnisfähigkeit in Wirklichkeit in uns steckt, sobald man ihr Gelegenheit bietet, wieder ins Bewusstsein aufzusteigen. In einer Flut tausender Neuerscheinungen ist dieses kleine, broschierte Buch etwas ganz Besonderes. Eine kleine Kostbarkeit.
Meinem einzigen Begehren
- Seitenzahl:
- 96 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Französischen von Luzia Gast
- Verlag:
- Diaphnes
- Bestellnummer:
- 978-3-035-80623-6
- Preis:
- 18 €