Buch-Cover: Mareike Fallwickl, "Und alle so still“ © Rowohlt
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AUDIO: Neue Bücher: "Und alle so still" von Mareike Fallwickl (5 Min)

Mareike Fallwickls "Und alle so still": Wenn Frauen revoltieren

Stand: 08.05.2024 06:00 Uhr

Mareike Fallwickls kluger und einfühlsamer Roman ist ein literarischer Aufruf zur Solidarisierung mit Frauen, die ihre Berufe unterbezahlt ausüben und deren Arbeit im privaten Bereich keine Anerkennung findet.

von Claudia Cosmo

Elin ist 21 Jahre alt, verdient ihr Geld als Influencerin und hat 1,2 Millionen Follower, denen sie Produkte anpreist. Die ständig eintreffenden Kommentare bereiten ihr Herzrasen. Den Stress und ihre innere Leere kompensiert sie mit wahllosem Sex, zu dem sie sich auf einschlägigen Plattformen verabredet. Am liebsten sind Elin die Sexdates in den Zimmern des Wellnesshotels, das ihre Mutter Alma betreibt. Dort lebt Elin und leidet unter dem harten Regime ihrer Mutter, die Frau-Sein mit Leistung und Disziplin gleichsetzt. Morgens, kurz bevor der Trubel im Hotel losgeht, sucht Elin Entspannung im Pool:

Die Arme zur Seite, die Füße gestreckt, als lägen sie auf einem Bett. Nicht gehen, nicht nicken, nicht gefallen und dagegenhalten auch nicht.
Schwerefrei ist er, normfrei, schmerzfrei. Und Elin glaubt, sie werden nicht mehr vergessen, dass dieser Zustand existiert. Ihre Mutter geht nicht schwimmen. Wahrscheinlich suggeriert das Im-Wasser-Sein Leichtigkeit und ein Bedürfnis nach Ruhe, und mit beidem will Alma nicht in Verbindung gebracht werden. Leseprobe

Frauen, die Care-Arbeit verrichten

Mareike Fallwickls Roman "Und alle so still" erzählt nicht nur die Geschichte von Elin, die sich nach Zugehörigkeit sehnt, denn sie kennt bisher weder ihren Vater noch die Großeltern, die ihr Alma vorenthalten hat. Im Roman begegnen die Leserinnen und Leser auch Almas Schwester Ruth und Iris, der Großmutter von Elin. Im Laufe des Romans lernen sich die drei Frauen unter widrigen Umständen kennen. Sie verbindet die Tatsache, dass sie sich an das, was man von ihnen erwartet, angepasst haben. Sie verrichten sogenannte Sorgearbeit, auch Care-Arbeit genannt. Elin sorgt für das Vergnügen ihrer Follower und ihrer Sexpartner, Iris unterwirft sich den Vorstellungen ihres Mannes, dem sie den Alltag und die Arztpraxis managt, Alma kümmert sich um ihre Hotelgäste und Krankenschwester Ruth um ihre Patienten. Ruth hat ein schweres Leben. Neben der Arbeit pflegte sie als Alleinerziehende ihren mittlerweile verstorbenen Sohn:

"Mein Sohn wäre heute dreißig geworden", sagt sie, und es kracht ganz leicht in ihrer Kehle. Das ist, weil sie nicht mehr weint. Es ist alles drin in dem kleinen Satz. "Er ist gestorben, als er achtzehn war", flüstert sie. Dass niemand geglaubt hat, er könnte überhaupt so alt werden. Dass er kein Schauspielersohn war und kein Studiersohn, sondern ein Ich-hebe-dich-in-den-Rollstuhl-Sohn, ein Ich-sauge-dir-den-Schleim-ab-Sohn, ein Wirst-du-morgen-früh-noch-leben-Sohn, bitte geh nicht. Leseprobe

 

Weitere Informationen
Jorinde Dröse und Mareike Fallwickl © Joachim Gern/Gyöngyi Tasi Foto: Joachim Gern/Gyöngyi Tasi
55 Min

"Die Wut, die bleibt" am Schauspiel Hannover

Jorinde Dröse inszeniert Mareike Fallwickls Roman "Die Wut, die bleibt" am Schauspiel Hannover. 55 Min

Am Ende der Leistungsfähigkeit

In Ruths Krankenhaus herrscht Personalmangel. Oft ist sie alleine bei ihren Schichten auf Station und riskiert bei all dem Stress ihre Gesundheit. Ihr Körper verlangt nach Ruhe. Ruth kann nicht mehr. Wie so viele ihrer meist weiblichen Kolleginnen ist sie am Ende ihrer Leistungsfähigkeit angekommen. Als das Fass überläuft, beginnen die Sorgearbeiterinnen einen Streik. Sie verlassen ihre Arbeitsplätze und legen sich schweigend auf den Boden, wie zum Beispiel vor dem Krankenhaus, in dem Ruth arbeitet. Zu den Streikenden gehört auch Iris. Elin, die zur schweigenden Menge gestoßen ist, lernt dort ihre Familie kennen:

Iris lächelt sie stumm an, und was bedeutet das, Herkunft? Es wäre gut gewesen eine erweiterte Familie zu haben. Sie kann sich nicht wehren gegen den schlierigen Groll, dass die Mutter eine unfaire Entscheidung getroffen hat. Leseprobe

"Und alle so still": Ein hoffnungsvolles Plädoyer

Mareike Fallwickls kluger und einfühlsamer Roman "Und alle so still" basiert auf dem Gedanken, was passiert, wenn sich Frauen plötzlich verweigern. Sie beenden ihre Care-Arbeit und hören auf zu pflegen, sich zu kümmern, zu putzen, zu unterrichten, Bus zu fahren oder zu schrubben. Die Überlegung, welche Konsequenzen ein radikaler Stillstand mit sich bringt, findet sich schon in Fallwickls Vorgängerroman "Die Wut, die bleibt" und wird nun im neuen Buch literarisch durchgespielt, indem sich Elin zu den Verweigerinnen gesellt, mit deren Schicksal sie sich identifizieren kann.

Mareike Fallwickls hochspannender Roman ist ein literarischer Aufruf zur Solidarisierung und zur Veränderung einer Gesellschaft, die sich auf dem Rücken der sorgenden Frauen ausruht, die ihre Berufe unterbezahlt ausüben und deren Arbeit im privaten Bereich gar keine Anerkennung findet. Dass auch der Mann im Patriarchat und im gnadenlosen Kapitalismus untergeht, begreift im Roman nur ein junger Mann, der sich vom gängigen Männerbild distanziert. Mareike Fallwickls "Und alle so still" ist weder Dystopie noch Utopie. Der Roman ist ein hoffnungsvolles Plädoyer, in dem die Menschlichkeit das höchste Ziel darstellt.

Und alle so still

von Mareike  Fallwickl
Seitenzahl:
368 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Rowohlt
Bestellnummer:
978-3-498-00298-5
Preis:
23 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 08.05.2024 | 12:40 Uhr

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