"Risse": Angelika Klüssendorf wagt sich an die Leerstellen
Angelika Klüssendorf ist 1958 in Ahrensburg geboren, aufgewachsen in der DDR und 1985 in die Bundesrepublik übergesiedelt. Mit ihrem neuen Werk "Risse" stand sie auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis.
Vor knapp 20 Jahren erschien der schmale Erzählungsband "Aus allen Himmeln" von Angelika Klüssendorf. Darin: Geschichten einer ostdeutschen Kindheit, die voller Schmerz, Gewalt und Dunkelheit ist. Im Mittelpunkt ein Mädchen, das mal fatalistisch, mal voller Mut versucht mit den Schrecken zu leben. Unklar war damals, in welchem Maße autobiografisch Klüssendorfs Erzählungen waren. Mit dieser Ungewissheit räumt die Autorin in "Risse" nun auf. Es ist eine Art Wiedervorlage. Sie veröffentlicht die alten Erzählungen erneut, allerdings mit sehr persönlichen Kommentaren:
"Ich habe meine Mutter wieder und wieder sterben lassen. Jahrzehntelang habe ich ihren Tod als Ausrede für alles Mögliche benutzt, ihn inflationiert, für nicht wahrgenommene Arztbesuche, sogar für die Absage einer Lesung musste er herhalten. Ich fühlte eine Art grimmigen Spott, wenn ich ihren Tod als Ausrede vorschob, als würde ich ihr etwas heimzahlen. Nun ist sie tot. Was ich nicht für möglich gehalten habe: Ich vermisse sie. Ich empfinde Trauer, doch meine Freude über die Trauer ist größer als die Trauer selbst." Leseprobe
Angelika Klüssendorf wagt sich an die Leerstellen
In kursiv gesetzten Abschnitten bewertet Angelika Klüssendorf die alten Erzählungen neu, kommentiert sie und behauptet, nun die Wahrheit darüber zu schreiben. Wobei Wahrheit in der Literatur natürlich gar keine festumrissene Kategorie ist. Warum sie all das tut? "Der Erzählungsband erschien in einer sehr kleinen Auflage. Ich hatte die Wahl, genau die Sätze zu schreiben, die ich schreiben wollte. Warum habe ich dennoch Ereignisse ausgelassen oder falsch beschrieben?", fragt Angelika Klüssendorf. "Es gibt keine Wunden, die nicht verheilt wären, doch es gibt Leerstellen, die ich bis heute nicht zu betreten wagte."
Veränderter Blick
Den Mut, diese Leerstellen zu füllen, bringt Angelika Klüssendorf jetzt auf. Sie tut es gewohnt kitschfrei, kühl und etwas spröde. Je älter man wird, desto mehr verändert sich der Blick auf das eigene Leben. Man schätzt Situationen, Begebenheiten und Menschen anders ein.
"Mein Vater war ein Vergewaltiger. Diesen Satz zu schreiben, ist mit einem Ekelgefühl verbunden. Heiratsschwindler klingt so viel besser. Ich war eine Zeugin. Doch wo war mein Mitgefühl? Wenn ich mich an eines erinnere, dann daran, dass ich nie etwas Gutes erwartete, es schien mir fast folgerichtig, was geschah. Gefühle täuschte ich vor. Das heißt: die hellen Gefühle - ein freundliches Gesicht beispielsweise, für alles andere gab es ohnehin kein Verständnis." Leseprobe
Wahrheitsgehalt für die Literatur unerheblich
Natürlich wissen wir Leserinnen und Leser noch immer nicht, ob sich alles so zugetragen hat und natürlich ist das ganz unerheblich für die Rezeption des Buches und seine Qualität. Klüssendorfs Kunstfertigkeit ist bestechend. Allein, dass der Verlag die Erzählungen samt Kommentaren als Roman kategorisiert, wirft Fragen auf. Ein Roman ist "Risse" nun wirklich nicht. Aber ein bemerkenswerter Versuch, zum Kern des eigenen Lebens zu dringen:
"Schreiben ist mir der einzig verlässliche Raum. Denn in all der Ausweglosigkeit gab es immer eine Sehnsucht. Diese Sehnsucht war darauf gerichtet, dass ich mir all das, was passierte, merken müsste und erzählen, wenn auch ganz anders; es sollten Abenteuergeschichten werden. Es war das, was mich den Schmerz ertragen ließ, ohne abzustumpfen, später, dachte ich, später." Leseprobe
Risse
- Seitenzahl:
- 176 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Piper
- Veröffentlichungsdatum:
- 31. August 2023
- Bestellnummer:
- 978-3-492-05991-6
- Preis:
- 22,00 €