Buch-Cover: Angelika Klüssendorf - Risse © Piper Verlag

"Risse": Angelika Klüssendorf wagt sich an die Leerstellen

Stand: 18.09.2023 14:47 Uhr

Angelika Klüssendorf ist 1958 in Ahrensburg geboren, aufgewachsen in der DDR und 1985 in die Bundesrepublik übergesiedelt. Mit ihrem neuen Werk "Risse" stand sie auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis.

von Katja Eßbach

Vor knapp 20 Jahren erschien der schmale Erzählungsband "Aus allen Himmeln" von Angelika Klüssendorf. Darin: Geschichten einer ostdeutschen Kindheit, die voller Schmerz, Gewalt und Dunkelheit ist. Im Mittelpunkt ein Mädchen, das mal fatalistisch, mal voller Mut versucht mit den Schrecken zu leben. Unklar war damals, in welchem Maße autobiografisch Klüssendorfs Erzählungen waren. Mit dieser Ungewissheit räumt die Autorin in "Risse" nun auf. Es ist eine Art Wiedervorlage. Sie veröffentlicht die alten Erzählungen erneut, allerdings mit sehr persönlichen Kommentaren:

"Ich habe meine Mutter wieder und wieder sterben lassen. Jahrzehntelang habe ich ihren Tod als Ausrede für alles Mögliche benutzt, ihn inflationiert, für nicht wahrgenommene Arztbesuche, sogar für die Absage einer Lesung musste er herhalten. Ich fühlte eine Art grimmigen Spott, wenn ich ihren Tod als Ausrede vorschob, als würde ich ihr etwas heimzahlen. Nun ist sie tot. Was ich nicht für möglich gehalten habe: Ich vermisse sie. Ich empfinde Trauer, doch meine Freude über die Trauer ist größer als die Trauer selbst." Leseprobe

Angelika Klüssendorf wagt sich an die Leerstellen

In kursiv gesetzten Abschnitten bewertet Angelika Klüssendorf die alten Erzählungen neu, kommentiert sie und behauptet, nun die Wahrheit darüber zu schreiben. Wobei Wahrheit in der Literatur natürlich gar keine festumrissene Kategorie ist. Warum sie all das tut? "Der Erzählungsband erschien in einer sehr kleinen Auflage. Ich hatte die Wahl, genau die Sätze zu schreiben, die ich schreiben wollte. Warum habe ich dennoch Ereignisse ausgelassen oder falsch beschrieben?", fragt Angelika Klüssendorf. "Es gibt keine Wunden, die nicht verheilt wären, doch es gibt Leerstellen, die ich bis heute nicht zu betreten wagte."

Veränderter Blick

Den Mut, diese Leerstellen zu füllen, bringt Angelika Klüssendorf jetzt auf. Sie tut es gewohnt kitschfrei, kühl und etwas spröde. Je älter man wird, desto mehr verändert sich der Blick auf das eigene Leben. Man schätzt Situationen, Begebenheiten und Menschen anders ein.

"Mein Vater war ein Vergewaltiger. Diesen Satz zu schreiben, ist mit einem Ekelgefühl verbunden. Heiratsschwindler klingt so viel besser. Ich war eine Zeugin. Doch wo war mein Mitgefühl? Wenn ich mich an eines erinnere, dann daran, dass ich nie etwas Gutes erwartete, es schien mir fast folgerichtig, was geschah. Gefühle täuschte ich vor. Das heißt: die hellen Gefühle - ein freundliches Gesicht beispielsweise, für alles andere gab es ohnehin kein Verständnis." Leseprobe

Wahrheitsgehalt für die Literatur unerheblich

Natürlich wissen wir Leserinnen und Leser noch immer nicht, ob sich alles so zugetragen hat und natürlich ist das ganz unerheblich für die Rezeption des Buches und seine Qualität. Klüssendorfs Kunstfertigkeit ist bestechend. Allein, dass der Verlag die Erzählungen samt Kommentaren als Roman kategorisiert, wirft Fragen auf. Ein Roman ist "Risse" nun wirklich nicht. Aber ein bemerkenswerter Versuch, zum Kern des eigenen Lebens zu dringen:

"Schreiben ist mir der einzig verlässliche Raum. Denn in all der Ausweglosigkeit gab es immer eine Sehnsucht. Diese Sehnsucht war darauf gerichtet, dass ich mir all das, was passierte, merken müsste und erzählen, wenn auch ganz anders; es sollten Abenteuergeschichten werden. Es war das, was mich den Schmerz ertragen ließ, ohne abzustumpfen, später, dachte ich, später." Leseprobe

Risse

von Angelika Klüssendorf
Seitenzahl:
176 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Piper
Veröffentlichungsdatum:
31. August 2023
Bestellnummer:
978-3-492-05991-6
Preis:
22,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 21.09.2023 | 12:40 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Romane

Viele Bücher in Regalen in einer Buchhandlung, eine junge Frau steht vor einem der Borde und zieht Bücher heraus © Rolf Vennenbernd/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ Foto: Rolf Vennenbernd

Bücher 2023: Diese Romane haben uns bewegt

Ob Juli Zehs "Zwischen Welten", Stuckrad-Barres "Noch wach?" oder Kehlmanns "Lichtspiel" - viele Bücher haben 2023 für Gesprächsstoff gesorgt. mehr

Ein Latte Macchiato, eine Brille und eine Kerze liegen auf einem Buch © picture alliance / Zoonar | Oleksandr Latkun

Neue Bücher 2024: Die interessantesten Neuerscheinungen

Unter anderem gibt es Neues von Martina Hefter, Frank Schätzing, Markus Thielemann, Isabel Bogdan oder Lucy Fricke. mehr

Logo vom NDR Kultur Podcast "eat.READ.sleep" © NDR Foto: Sinje Hasheider

eat.READ.sleep. Bücher für dich

Lieblingsbücher, Neuerscheinungen, Bestseller – wir geben Tipps und Orientierung. Außerdem: Interviews mit Büchermenschen, Fun Facts und eine literarische Vorspeise. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur sucht Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Hände halten ein Smartphone auf dem der News-Channel von NDR Kultur zusehen ist © NDR.de

WhatsApp-Channel von NDR Kultur: So funktioniert's

Die Kultur Top-News aus Norddeutschland direkt aufs Smartphone: NDR Kultur ist bei WhatsApp mit einem eigenen Kanal aktiv. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Der Franzose Patrick Naudin und der Direktor der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek Robert Zapf bei der Übergabe von persönlichen Gegenständen aus dem Nachlass von Wolfgang Borchert. © NDR Foto: Peter Helling

Zurück in Hamburg: Wolfgang Borcherts Milchzahn und ein Wunschzettel

Die Mutter des Hamburger Autors überließ einst einer Deutschlehrerin in Frankreich ein paar persönliche Gegenstände ihres Sohnes. mehr