"Jenseits aller Zeit": Ein trauernder Polizist im Ruhestand
Sebastian Barrys Roman "Jenseits aller Zeit" ist ein großer literarischer Text. Seine tiefe Wirkung und seinen vielschichtigen Klang verdanken wir der vorzüglichen Übersetzung von Hans-Christian Oeser.
Tom Kettle war sein ganzes Berufsleben lang bei der Kriminalpolizei. Ein ehrenwerter, in Krisensituationen auch mitfühlender Mann, der sich jetzt im Ruhestand nutzlos fühlt und nicht recht weiß, warum er den ganzen Tag im Korbstuhl verbringen soll. Immerhin hat er Glück mit seinem Wohnsitz, er darf in einem Teil einer viktorianischen Burg wohnen, mit Blick auf Coliemore Harbour und die irische See, wo er am Ufer seine Runden dreht.
Er war allein. Überall blitzten die Krummsäbel eines schonungslosen Windes auf, schlugen nach seinem Hut, seinem Haar, seinem Herzen. Die Überreste des Sturms spielten der Straße übel mit, im Nachbargarten war eine Esche umgestürzt, die Möwen flehten um Erbarmen. In düsterer Formation zogen hohe Wolken schweigend gen England. Ein kalter Regen setzte ein, nur für ihn bestimmt, dachte er, ja, natürlich. Bald machte sich der Regen, ohne um Erlaubnis zu fragen, an seinem Mantelkragen zu schaffen und nässte seinen Nacken. Leseprobe
Fantasiegeschichten oder Erinnerungen?
Tom Kettle verfügt über einen sehr trockenen Mutterwitz, in den zu Beginn der Geschichte seine Erinnerungen behutsam gehüllt werden. Er spricht lange mit seinen Kindern und seiner Ehefrau, die alle schon nicht mehr leben. Ein unzuverlässiger Erzähler also, bei dem man immer einen Moment braucht, um herauszufinden, ob ihm gerade Fantasiegeschichten durch den Kopf gehen oder Erlebnisse aus seinem Berufsalltag.
Es gab viele schreckliche Geschichten auf der Welt, und die meisten davon hatte er gehört. Schreckliche Geschichten waren sein Geschäft. Ein unmöglicher Beruf. Milchmänner brauchten nur über ihren Milchwagen und die Unversehrtheit ihrer Flaschen nachzudenken. Selbst ein Arzt, sofern es sich nicht um einen Polizeiarzt handelte, war im Vergleich dazu geschützt vor diesem Reich des Leidens. Die Menschen ertrugen Schrecklichkeiten, und dann konnten sie nicht darüber sprechen. Die eigentlichen Geschichten der Welt waren in Schweigen gehüllt. Schweigen war der Mörtel, und manchmal waren die Mauern undurchdringlich. Leseprobe
Es klopft an Tom Kettles Haustür, und zwei jüngere Kollegen besuchen ihn. Am Anfang meint man, es ginge darum, dass sie ihn um Hilfe bitten wollen für die Aufklärung eines Mordes. Oder geht es um ihn selbst? Der Fall entwickelt sich ganz behäbig, aber mit zunehmender Spannung.
Großartig Übersetzung von Hans-Christian Oeser
Sebastian Barry schafft eine Atmosphäre wie an einem wärmenden Kaminfeuer, die einen unerklärbaren Trost ausstrahlt wegen der großen Ruhe, Geduld und einem absolut unwiderstehlichen Humor, mit dem über die Tragödien eines Lebens und seine unfassbar beglückenden Momente gesprochen wird. Tom Kettle ist genau der Polizist, den man im Notfall bei sich haben wollen würde, um das Allerschlimmste zu überstehen und die Hoffnung auf Würde und Menschlichkeit nicht zu verlieren. Diese Fähigkeit hat er, weil er selbst durch etliche Höllen gegangen ist. "Jenseits aller Zeit" ist ein großer literarischer Text, dessen tiefe Wirkung und vielschichtigen Klang wir der vorzüglichen Übersetzung von Hans-Christian Oeser verdanken.
Jenseits aller Zeit
- Seitenzahl:
- 304 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
- Verlag:
- Steidl
- Bestellnummer:
- 978-3-96999-401-6
- Preis:
- 25 €