Immer noch aktuell: Baldwins Essay "Kein Name bleibt ihm weit und breit"
Das scharfsinnige und einfühlsame Essay von James Baldwin "Kein Name bleibt ihm weit und breit" entstand bereits 1972. Nun wurde der Text neu übersetzt. Er ist heute noch so aktuell wie bei seiner Erstveröffentlichung.
James Baldwin war ein vielfach ausgezeichneter Schriftsteller, ein Bürgerrechtsaktivist und eine Ikone der Gleichberechtigung. Und doch war der Name des Afro-Amerikaners bis vor ein paar Jahren - zumindest in Deutschland - nicht wirklich geläufig. Seitdem sind einige seiner Bücher in neuen Übersetzungen erschienen, so auch sein Essay "Kein Name bleibt ihm weit und breit" von 1972.
Seit einigen Jahren kann man von einer regelrechten James-Baldwin-Renaissance sprechen. Was überaus erfreulich ist, denn seine Romane, Erzählungen und Essays berühren und beeindrucken auch heute noch in ihrer Klarheit, Weitsichtigkeit und Formulierungskunst, in dieser Baldwin-eigenen-Mischung aus Analyse und Argument einerseits, Empathie und Emotion andererseits.
Hochgeschätzter, feinfühliger Autor
"Was Baldwin so gut kann, ist nicht zu beschreiben, was passiert, sondern wie es sich anfühlt". So bringt Regisseur Barry Jenkins das Können des Schriftstellers auf den Punkt. Jenkins hat 2018 Baldwins Roman "If Beale Street Could Talk" verfilmt. Schon zwei Jahre vorher war Raoul Pecks großartige Doku "I Am Not Your Negro" erschienen - und hatte den Startschuss zur Neubeschäftigung mit der queeren Bürgerrechts-Ikone gegeben.
Der vor Kurzem verstorbene Autor Paul Auster nannte ihn einen "außerordentlich guten Schriftsteller, mutig und gleichzeitig so empfindsam". Pianist Igor Levit schätzt die Texte Baldwins als eine: "Sprach-, Verständnis- und Lebensschule." In dieser sitzt man auch beim Lesen von "Kein Name bleibt ihm weit und breit". Sein vor über 50 Jahren veröffentlichtes Buch wurde jetzt - wie viele andere Baldwin-Texte in den letzten Jahren - von Miriam Mandelkow behutsam und klug neu übersetzt.
Baldwin als Zeitzeuge
Zum einen erleben wir dort den Zeitzeugen Baldwin, der die turbulenten sechziger und frühen siebziger Jahre erlebt hat und eindringlich beschreibt. Die Trauerfeier von Martin Luther King:
Ich wollte nicht um Martin weinen; Tränen waren vergeblich. Vielleicht hatte ich auch Angst, und damit war ich bestimmt nicht allein, nicht aufhören zu können, wenn ich einmal anfing. Wir hatten so viel zu beweinen, wenn wir einmal weinten - so viele von uns, so früh zu Fall gebracht. Leseprobe
Oder den Marsch auf Washington, den Baldwin als Civil-Rights-Aktivist 1963 mitmachte:
Trotz allem, was man wusste und fürchtete, war es ein sehr bewegender Tag, und trotz allem, was man wusste, wagte man beinahe zu hoffen - zu hoffen, dass die Not und die Leidenschaft der Menschen, so nackt und so lebhaft, mit solcher Würde offenbart, nicht ein weiteres Mal betrogen würde. Leseprobe
Eine Hoffnung, die sich leider nicht erfüllen sollte. So schwingt oft Wehmut, Trauer, Verzweiflung und eine große Portion Wut mit, wenn Baldwin über die Ermordung von Malcolm X und Martin Luther King schreibt, über alltäglichen Rassismus, den Vietnamkrieg, korrupte Polizisten oder den feinen Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit.
Keine guten Erinnerungen an Hamburg
Zum anderen aber offenbart Baldwin auch viel Persönliches. Er erinnert sich in lebhaften Details an seine Kindheit in Harlem und an das schwierige Verhältnis zu seinem Vater, einem Prediger.
Die Welt des Vaters, der Tischgebete, der Bibelstunden und des sonntäglichen Kirchgangs, erschien ihm beides: strahlend und eng, kraftvoll und bigott, feierlich und verdruckst. Leseprobe
So ordnet es der Literaturkritiker Ijoma Mangold im Vorwort des Buches ein. Baldwins Gedanken springen hin und her, zwischen Politischem und Persönlichem. Wir folgen seinem Bewusstseinsstrom von Hollywood nach New York, von Paris - bis nach Hamburg.
Hamburg sieht aus wie eine Stadt, die eigens für Staatsakte erbaut wurde - eine imposante Aufreihung von Steinfassaden. Die Menschen sind so freundlich wie die Menschen in London und auf dieselbe Weise: mit einer Höflichkeit, die so kurz angebunden ist wie eine hochgezogene Zugbrücke und so beunruhigend wie der tiefe Graben darunter. Leseprobe
"Kein Name bleibt ihm weit und breit" ist halb autobiografische Erinnerung, halb tagespolitischer Kommentar. Mal niedergeschlagen, nachdenklich und an sich selbst zweifelnd. Dann wieder hellwach, scharfsinnig und kämpferisch.
Kein Name bleibt ihm weit und breit
- Seitenzahl:
- 272 Seiten
- Genre:
- Essay
- Zusatzinfo:
- Übersetzt von Miriam Mandelkow
- Verlag:
- dtv
- Bestellnummer:
- 978-3-423-28400-4
- Preis:
- 22 €