Cover: J.M. Coetzee - Der Pole © S. Fischer Verlag

J. M. Coetzees "Der Pole": Die Suche nach einer Sprache für die Liebe

Stand: 24.05.2023 06:00 Uhr

In J. M. Coetzees Roman "Der Pole" spielt die Sprache eine besondere Rolle. Der Literaturnobelpreisträger beschreibt darin ein Liebespaar, dem es schwer fällt, seine Gefühle in Worte zu fassen.

von Jan Ehlert

So hat sie die Musik von Chopin noch nie gehört. Ganz anders als die sehnsuchtsvollen, träumerischen Interpretationen, die Beatriz gewohnt ist, die sie liebt, klingt dieser Chopin des angereisten polnischen Pianisten hart und rhythmisch - und damit angeblich authentisch. Aber auch enttäuschend - zumindest für Beatriz.

Ihr Chopin hat die Macht, sie aus Barcelona in den Salon eines großen alten Landhauses in den fernen polnischen Ebenen zu versetzen, wenn ein langer Sommertag sich seinem Ende zuneigt, eine leichte Brise die Vorhänge bewegt und der Duft von Rosen hereinschwebt. An einen anderen Ort versetzt zu werden, vor Gefühlsüberschwang außer sich zu geraten - höchstwahrscheinlich eine antiquierte Vorstellung davon, was Musik bei den Hörern bewirkt, antiquiert und vielleicht auch sentimental. Aber danach sehnt sie sich an diesem speziellen Abend, und das liefert der Pole nicht. Leseprobe

J. M. Coetzees Anspielungen auf Dante

Und auch sonst ist Witold, der Landsmann Chopins, für Beatriz eine Enttäuschung: Die Frisur eines Maestros, lange graue Haare, aber auch ein langes, trauriges Gesicht. Nach einem gemeinsamen Abendessen - für sie als Veranstalterin des Konzerts eine eher lästige Pflicht - verabschieden sie sich. Und das könnte das Ende der Geschichte sein. Doch nach einiger Zeit meldet sich der Pianist erneut bei ihr.

"Werte Dame", sagt der Pole, "Sie erinnern sich doch an Dante Alighieri, den Dichter? Seine Beatrice schenkte ihm nie ein Wort, und er liebte sie sein Leben lang. […] Sie schenken mir Frieden. Sie sind mein Symbol des Friedens." Leseprobe

Ein schönes, ein anmaßendes Kompliment - doch kann man heute noch so lieben und leben wie Dante? Anspielungen auf das Werk des italienischen Dichters, der im 13. Jahrhundert lebte, finden sich immer wieder in den Büchern von J. M. Coetzee. Zumeist ist es das berühmte Inferno, die Höllenreise, auf die er seine Figuren schickt, etwa in "Eiserne Zeit" oder in seinem bekanntesten Roman "Schande". Hier ist es das kleinere Werk "Vita Nova", das als Vorbild dient. Dantes Minnesang auf die ewige, aber auch ewig unerreichbare Geliebte. Auf die Liebe, die ihm das Vita Nova, das Neue Leben schenkte. Nur dass diese Version aus der Sicht der Angebeteten erzählt wird, Beatriz - und die ist wenig begeistert.

Er trägt ihr Bild mit sich, wie ein Liebender früher das Bild seiner Liebsten in einem Medaillon um den Hals trug. Sehr nett. Wenn sie jung wäre, wenn er jung wäre, könnte sie sich geschmeichelt fühlen. Aber von einem Mann Jahrgang 1943, einem Mann, der ihr Vater sein könnte, ist seine Werbung um sie weder amüsant noch schmeichelhaft. Sie ist allenfalls geschmacklos. Leseprobe

 

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Wenn die Sprache scheitert

Der gefahrvolle Reiz des inneren Ichs sei das große Thema von Coetzee, lobte die Schwedische Akademie bei der Verleihung des Literaturnobelpreises an den südafrikanischen Autor. Und diesen Reiz kostet Coetzee hier gekonnt aus. Plötzlich eine Angebetete zu sein, verändert Beatriz. Gibt einer Sehnsucht Raum, von der sie nicht wusste, dass sie in ihr schlummert. Anregungen, wie Beatriz sich fühlen, wie sie reagieren könnte, holte sich Coetzee von seiner spanischen Übersetzerin Mariana Dimópulos. Ihre Anregungen seien in den Roman eingeflossen, gab der Autor zu. Und doch könnte dieses Buch nur eine weitere, etwas unangenehme Geschichte eines alten Mannes sein, der das "Nein" einer Frau nicht akzeptiert - und durch seine Beharrlichkeit schließlich Erfolg hat. Auf der Handlungsebene ist es genau das.

Aber wie so oft bei Coetzee spielt sich das Eigentliche zwischen den Zeilen ab: die Suche nach einer Sprache für die Liebe. Der Pole und seine Geliebte können sich nur in der gemeinsamen Fremdsprache des Englischen verständigen, das beide nicht gut beherrschen. Die verbindende Weltsprache, sie wird ungenügend, jeder Versuch, Gefühle in Worte zu fassen zur Banalität verdammt. Einen Minnesang schreiben wie Dante: zum Scheitern verurteilt. Und so bleibt auch die Liebe zwischen dem Polen und Beatriz für die Lesenden unverständlich. Das Geheimnis der Anziehung, man kann es nicht beschreiben, so wie die Anziehung zwischen zwei magnetischen Polen - ein Wortspiel, das sich nur in der englischen Version, "The Pole", erschließt, ein weiteres Beispiel für das Scheitern von Sprache. Das weiß Coetzee und nimmt dieses Scheitern wieder und wieder in Kauf. Denn ist die Liebe es nicht trotzdem wert, es wieder und wieder zu versuchen?

Der Pole

von J. M. Coetzee
Seitenzahl:
144 Seiten
Genre:
Roman
Zusatzinfo:
Aus dem Spanischen von Reinhild Böhnke
Verlag:
S. Fischer
Bestellnummer:
978-3-10-397501-7
Preis:
20 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 24.05.2023 | 12:40 Uhr

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