"Generation Angst": Wie die Medienwelt unsere Kinder krank macht
In den USA hat das Buch des US-Psychologen Jonathan Haidt zu neuen Debatten über die Risiken von digitalen Medien geführt. Wissenschaftler der Uni Würzburg halten seine Darstellungen dagegen für zu einseitig.
Smartphones, Tablets, Computer - die intensive Nutzung solcher Geräte hat unser Leben in den letzten beiden Jahrzehnten nachhaltig verändert. Besonders der Alltag von Kindern und Jugendlichen ist durch den Einfluss von TikTok, YouTube, Instagram und Co. heutzutage ganz anders als der von früheren Generationen. Über die Auswirkungen hat der US-Psychologe Jonathan Haidt einen Bestseller geschrieben, der jetzt auch auf Deutsch erschienen ist. Und der Titel hat es in sich: "Generation Angst" nennt er diejenigen, die in diese scheinbar schöne neue Medienwelt hineingeboren wurden - und nun verstärkt mit psychischen Störungen zu kämpfen hätten. Doch seine Thesen sind umstritten.
Würden Sie Ihrem Kind eine Reise zum Mars erlauben?
Wer schon mal fröhlich tobende Mädchen und Jungen in einem Bälle-Bad gesehen hat, das man zum Beispiel aus dem Spieleparadies im Möbelhaus kennt, den wird bereits das Cover dieses Buches verstören: Ein Kind sitzt dort mitten in einem Haufen gelber Plastikkugeln und starrt völlig abwesend auf sein Handy! Und dann noch das: Würden Sie Ihrem Kind eine Reise zum Mars erlauben, will Jonathan Haidt gleich zu Beginn von seinen Leserinnen und Lesern wissen. Nun ja, mag mancher da meinen, wenn man an den letzten Zwergenaufstand und das jüngste Affentheater denkt. Aber der Autor ist nicht zu Scherzen aufgelegt! Dies ist ein sehr ernstes Sachbuch, und deshalb steckt hinter dieser Frage auch eine Botschaft: Zum Mars würdet ihr eure Kinder nicht reisen lassen. Aber in ein fremdes virtuelles Universum wie das Internet mit all seinen Gefahren lasst ihr sie leichtfertig ziehen:
Viele waren erleichtert, als sie herausfanden, dass ein Smartphone oder ein Tablet ein Kind stundenlang beschäftigen und ruhig halten konnte. Aber war das sicher? Niemand wusste es, doch da es alle machten, nahm man an, es sei in Ordnung. Leseprobe
War es aber nicht, wie Jonathan Haidt nachweisen will.
Rückzug aus der realen Welt
"Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen", lautet der Untertitel - und genau darum geht es Haidt: um die "smartphonebasierte Kindheit" der Generation Z, also die Ende der 1990er-Jahre Geborenenen, die als Versuchskaninchen für eine neue Form des Heranwachsens herhalten müssten. Eine Kindheit, die von den sozialen Medien bestimmt ist und damit vom zunehmenden Rückzug aus der realen Welt:
Sie verwendeten weitaus weniger Zeit darauf, mit Freunden und Familienmitgliedern zu spielen, sich mit anderen zu unterhalten, sie zu berühren oder auch nur Augenkontakt mit ihnen aufzunehmen. Dadurch reduzierte sich ihr Anteil an körperlichen, sozialen Vehaltensweisen, die für eine erfolgreiche menschliche Entwicklung unbedingt nötig sind. Leseprobe
Und wenn das Selbstwertgefühl von "Gefällt mir"-Bekundungen abhängt, Selfies nicht zum Betrachten, sondern vor allem zum Bewerten hochgeladen werden und über allem die FOMO kreist, die "fear of missing out“, also die Angst irgendwas zu verpassen, dann kann das kräftig aufs Gemüt gehen. Jonathan Haidt nennt das die "große Neuverdrahtung der Kindheit". Als ob die Generation Z die erste Generation wäre, die auf dem Mars aufwachse.
Angststörungen, Depressionen und Selbstverletzungen
Aber da ist noch etwas, was den Autor umtreibt: Heute werden Kinder mit dem SUV von der Schule abgeholt, mit dem Lastenrad durch die Gegend kutschiert und ihr Aufenthaltsort mit Smartphone-Apps kontrolliert. Dass der Nachwuchs ohne Aufsicht spielen kann, das scheinen viele Eltern aus lauter Sorge kaum noch ertragen zu können. Freies Spiel ist für die Entwicklung von Kindern aber extrem wichtig. Und das führt den Psychologie-Professor der New Yorker Stern School of Business zu folgender Schlussfolgerung:
Dass diese beiden Trends - Überbehütung in der wirklichen Welt und Unterbehütung in der virtuellen Welt - die Hauptursachen dafür sind, dass nach 1995 geborene Kinder zur "ängstlichen Generation" wurden. Leseprobe
Jonathan Haidt beschreibt die Folgen als Flutwelle von Angststörungen, Depressionen und Selbstverletzungen, die Mädchen mehr erfasste als Jungen und am schlimmsten für Mädchen unter 13 war. In den USA hat das Buch zu neuen Debatten über die Risiken von digitalen Medien geführt. Wissenschaftler der Uni Würzburg halten seine Darstellungen dagegen für zu einseitig. Die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen hänge von viel mehr Faktoren und deren Zusammenspiel ab, seine wissenschaftliche Begründung sei mangelhaft, heißt es. Zudem würden viele Jugendliche von sozialen Medien profitieren. Und nicht zuletzt würde "Generation Angst" bei Eltern und Lehrkräften vor allem Eines auslösen - nämlich Angst! Daran sollte man bei der Lektüre denken: Das Nachdenken über Jonathan Haidts Thesen und Ratschläge kann nicht schaden. Am Ende bleibt Angst aber immer ein schlechter Rat.
Generation Angst
- Seitenzahl:
- 448 Seiten
- Genre:
- Sachbuch
- Zusatzinfo:
- Übersetzt von Monika Niehaus-Osterloh und Jorunn Wissmann
- Verlag:
- Rowohlt
- Bestellnummer:
- 978-3-498-02836-7
- Preis:
- 26 €