Buchcover: František R. Kraus, "Gas, Gas, … und dann Feuer" © Hentrich und Hentrich

"Gas, Gas, ... und dann Feuer": Erlebnisse eines KZ-Überlebenden

Stand: 26.01.2025 06:00 Uhr

Es sind die kleinen Beobachtungen, die František Kraus im Konzentrationslager notiert, die Lesende nicht loslassen. Grausam ist diese Lektüre - nicht wegen ihres Autors, sondern wegen der Mordmaschinerie der Nazis in den Lagern.

von Jochanan Shelliem

František Kraus war Schriftsteller, Journalist und Redakteur. Er gehörte zum sogenannten Prager Kreis und schrieb für das berühmte "Prager Tagblatt", die "Prager Presse" und "Bohemia". Kraus, geboren 1903, war mit Franz Kafka, Jaroslav Hašek, Jan Masaryk und Egon Erwin Kirsch bekannt und arbeitete für den Rundfunk der Tschechoslowakei. Nach der Besetzung von Böhmen und Mähren wurde Kraus im November 1941 mit dem allerersten Transport von Juden nach Theresienstadt und von dort am 1. Oktober 1944 nach Ausschwitz deportiert. Auf einem Todesmarsch gelang ihm die Flucht. 1945 gelangte er ins befreite Budapest. Er schrieb sofort seine Erlebnisse nieder. Diese wurden nach seiner Rückkehr nach Prag im September 1945 veröffentlicht. Es war das erste Buch über die Konzentrationslager, das in der Tschechoslowakei erschien. Erst jetzt und nur durch das Zutun seines Sohnes Thomàš Kraus konnte der kleine Hentrich & Hentrich Verlag seine Aufzeichnungen übersetzen lassen und herausgeben.

Die Wahrheit hinter den Lügen

"Kanada" hieß jener Teil von Auschwitz, in dem den Deportierten alles Verwertbare vom Leibe gerissen worden ist. "Gaswerk" die Mordmaschinerie im Krematorium.

"Wir haben hier noch drei weitere Öfen, viel moderner", erläutert Wyrczbianski. Leseprobe

Wyrczbianski ist ein Mitglied des Sonderkommandos im Krematorium. Der Pole flüstert František Kraus, der dieses Lager überleben wird, die Wahrheit hinter den Lügen im Lager Auschwitz zu. Denn Lügen stehen am Anfang der Mordmaschinerie - die Vergewaltigung des kleinen Einmaleins des Anstands.

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Grausame Lektüre, die einen nicht loslässt

Es hat seinen Sinn, dass diese Zeugenaussage des tschechischen Journalisten František Kraus, die kurz nach Kriegsende in Prag erschien, erst 80 Jahre nach der Befreiung auf Deutsch vorliegt. Die Täter sind wohlig entschlafen und die meisten Opfer leben auch nicht mehr. Nur die von Mengele missbrauchten Kinder und ihre lebenslangen Alpträumen sind noch da. Es sind die kleinen Beobachtungen, die František Kraus im Konzentrationslager notiert, die Lesende nicht loslassen.

Nach dem Mittagessen eine nächste Überraschung: "Wer kann Schreibmaschine schreiben und möchte im Büro arbeiten?" Es eilen die Leute zum Blockführer und rufen: "Hier!" Sie heben die rechte Hand wie in der Schule und melden sich. Er wählt von ihnen etwa 150; 90 kommen sofort zurück, der Rest des Abends. Sie kamen nicht, sie sind hereingekrochen, sie schwanken. Sie schrieben nicht auf der Schreibmaschine und verrichteten keine Büroarbeit, sondern Blut wurde Ihnen abgezapft, vermutlich für die deutschen Helden von all den Fronten, an denen die Germanen für Europa beim Siegen waren… Leseprobe

Grausam ist diese Lektüre - nicht wegen ihres Autors, sondern wegen der Mordmaschinerie der deutschen Nationalsozialisten in den Lagern. Eine Pflichtlektüre nicht nur für Auschwitz-Leugner und Rassisten in der Bundesrepublik.

In der Früh um vier, wenn mich das Geklirre der Glocke geweckt hat, jammere ich, dass die Nacht und die Träume zu Ende sind, in denen der Mensch über das Leiden nichts weiß. Ich wache auf, der nächste schreckliche Tag. Bekomme ich vielleicht heute den befreienden Schlag? Die Wunden an den Füßen und Händen schmerzen, sobald ich mich aufrichte, und zu alldem öffnen sich am Kopf, an der Brust und am Rücken Geschwüre, alles fließt… brrr! Ich hasse mich selbst, bin ein Tier, ein schmutziges, räudiges Tier, ich ekle mich vor mir selbst. Wozu diese Quälerei, oh, Gott! Heute fasse ich den Draht an, heute bestimmt! Leseprobe

Die völlige Zerrüttung menschlicher Existenz

Es ist zu hart. Brutal und ekelhaft ist nicht die Sprache von František Kraus. Brutal und ekelhaft sind die Ereignisse, ist das lakonisch referierte, verlogene, surrealistische Selbstbewusstsein der deutschen Organisatoren des KZ, die unverschämten Lügen von "Arbeit macht frei" oder "Ihr fahrt dann in den Osten und baut neue Städte auf". Unmenschlichkeit ist da ein Euphemismus. Es ist die völlige Zerrüttung menschlicher Existenz unter der Knute von Opportunisten, die viehische Verstümmelung Unschuldiger für ein Stück Brot.

Und schon weiß ich, warum ein derartiges Geschrei und eine derartige Unruhe herrschen. Die Frauen, in gestreiften und anderen Lumpen gekleidet, rufen uns, meist auf Polnisch zu: "Essen, essen! Alles, was ihr bei euch habt, werden sie euch nehmen!" Und da werfen wir all das, was wir noch in den Taschen haben - Brot, Konserven, Käse - über den Stacheldraht. Überall dort wälzen sich bereits die Frauen im Schlamm und raufen sich um diese Dinge. Leseprobe

Es ist die sprachliche Präzision von František Kraus - Jahrgang 1904, des Schülers von Egon Erwin Kisch, des rasenden Reporters - und sein Blick für die Details. Es ist seine Beobachtungsgabe, seine Distanz zu sich selbst, die ihn das Leid und die Grausamkeit seiner Erlebnisse in klare Worte fassen lässt. Und dieses unprätentiöse Zeugnis eines der besten tschechischen Rundfunkjournalisten, der als einer der Ersten nach Theresienstadt deportiert worden ist und von dort nach Auschwitz kam, das diesen Text so wertvoll macht. Im größten Schmerz zittert es nicht, sein analytisches Skalpell.

Gas, Gas, ... und dann Feuer

von František R. Kraus
Seitenzahl:
120 Seiten
Genre:
Roman
Zusatzinfo:
Aus dem Tschechischen von Vera Trnka
Verlag:
Hentrich und Hentrich
Bestellnummer:
978-3-95565-652-2
Preis:
17,90 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 27.01.2025 | 12:40 Uhr

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