"Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann": Roman voller Wärme und Folklore
János Székely hat einen mäandernden, einen märchenhaften, drastisch realistischen Roman geschrieben, der das Leid der Bauern und ihre 700-jährige Unterdrückung in Ungarn wie in einem jäh erwachten Wimmelbild von Peter Breughel beschreibt.
Die Tür ging auf. Die junge Frau knöpfte sich noch das Kleid zu, und als sie sich auf der Schwelle vorbeugte, blitzten ihre kleinen, harten, braunen Brüste zwischen den Knöpfen auf. Marci stieg das Blut zu Kopf.
Der Roman beginnt mit Julkas Geschichte, die ihren Clan verloren hat. Sie ist den faschistischen Pfeilkreuzlern auf dem Todesmarsch ins Konzentrationslager entwischt. In einem abgelegenen Gehöft bei dem Dorf Kákásd kriecht sie bei János Gáras, einem schweigsamen Bauern, unter. Erst gegen Beischlaf - das ist die Währung, mit der sie neben Diebstahl und ihrer Wahrsagerei ihr tägliches Überleben sichert. Bis dieser stille Riese sie gegen plündernde Wehrmachtssoldaten verteidigt und Julka feststellen muss, das Liebe daraus geworden ist.
János Székely schreibt über Helden und Feiglinge
Da gibt es den Geiger-Primas Marci, einen Schönling ohne Moral, die sich in der Endzeit des Zweiten Weltkriegs ohnehin keiner leisten kann. Er verdient sich den Lebensunterhalt mit Musik und seinem Körper in wechselnden Etablissements. Székely beschreibt die Dorfbewohner, die Helden und die Feiglinge. Pista Elek, beispielsweise, der Beinlose, der die Bauern zum Aufstand ausrufen will. Es schwirren die Heldentaten von Dani Kurucz über allen Tischen und das dekadente Grafengeschlecht knüppelt die Bauern zu einem Hungerlohn in die Weinberge, bis die Gendarmen den Aufstand, wie 1849 die Ungarische Revolution, wieder in Blut ersticken und das Elend von Neuem beginnt.
Ein Pageturner, der an Gabriel García Márquez erinnert
Die Dreiecksgeschichte zwischen Julka, ihrem Liebhaber Marci und dem Bauern Gáras bildet die Klammer des Romans. Székely bleibt ganz nah an den Menschen. Er beschreibt die Grausamkeiten der Gendarmen, den Hunger der Bauern und den Zynismus der marodierenden Wehrmachtssoldaten in einem faszinierenden Panoptikum, in dem alle ums Überleben kämpfen. Dabei entsteht eine Tapisserie der ungarischen Provinz, deren Bilder den Protagonisten eine Stimme gibt und die Fron der Bauern unter der ungarischen Adelsknute spürbar macht. Die 700 Seiten Text verfliegen schnell in diesem Pageturner, der an Gabriel García Márquez denken lässt. Die 40er-Jahre des Zweiten Weltkrieges bilden die Gegenwart im Roman, von der aus Székely einen Bogen über 700 Jahre Unterdrückung, Einsamkeit und Ausbeutung schlägt.
Das Buch ist voller Wärme und Folklore. Es ist ganz eindeutig, dass dieser Roman vor 80 Jahren geschrieben worden ist. Und zum Schluss stellt sich eine große Frage: Wer um Himmels Willen ist dieser wunderbare Autor?
Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann
- Seitenzahl:
- 704 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach
- Verlag:
- Diogenes
- Bestellnummer:
- 978-3-257-07236-5
- Preis:
- 28 €