Ein verstörendes Leseerlebnis: "Tanz des Verrats" von Mathias Enard
Der vielfach ausgezeichnete französische Autor Mathias Enard legt einen neuen Roman vor: Mit "Tanz des Verrats" sprengt er wieder einmal herkömmliche Leseerwartungen.
Wie gewohnt, Mathias Enard will alles. Das Schlimmste und das Beste. Totale Gewalt - totaler Geist. Der Mensch im maximalen Gegensatz - in einem Roman. Der diesmal aber aus so unterschiedlichen Hälften besteht, dass man eigentlich von zwei Büchern sprechen kann, stilistisch, inhaltlich, perspektivisch.
Brutal und episch zugleich
Spätestens als der Krieg in der Ukraine ausbrach, sagt Enard, sei er überzeugt gewesen, dass zwei Geschichten notwendig seien. Die Erzählung der politischen Ereignisse und die der extrem grausamen Realität nämlich. Der eine Erzählstrang ist rough, brutal, tierisch fast, ein namenloser Deserteur in einem namenlosen Krieg. Wir, beim Lesen, sind er, sind Ich, manchmal auch nicht. Alles verschwimmt, wo es nur um Durchhalten und Aushalten, Essen und Trinken und kaputte Körper geht. Epischer Ton, teils sogar Verse.
Wasser und Sonne vertreiben den beißenden Geruch nach Fett und Blut, den dein Körper angenommen hat
hoch am Himmel kreisen Vögel und Flugzeuge.
Leseprobe
Spannung, die sich nicht auflöst
Der andere Romanstrang hat eine völlig andere Erzählweise. Mathematiker und Mathematikerinnen - Vertreter des abstrakten Geistes - treffen sich. Auf einem Havel-Dampfer soll ein Kolloquium stattfinden. Zu Ehren eines - von Enard erfundenen - Großen des Fachs, Paul Heudeber, der das KZ Buchenwald überlebt hat und sich nach dem Krieg für die DDR entschied.
Paul definierte sich als antifaschistischer Mathematiker. Er war störrisch wie ein Axiom. Ich erinnere mich, dass ich bei dieser allgemeinen Charakterisierung meines Vaters lächeln musste. Leseprobe
Sie haben genau bezeichnete Biographien, befinden sich historisch eindeutig in der Nähe von Berlin, Spätsommer 2001, Vorabend des 11. Septembers. So, dass wir Lesenden gleich wissen: der Einbruch der Gewalt steht erneut bevor.
Spiegel der aktuell lodernden Kriege
Dieser Spoiler muss sein: Es ist nicht so, dass die Spannung zwischen diesen beiden Romanwelten sich zum Schluss über die Geschicke der Figuren irgendwie auflösen würde. Die zwei Erzählstränge sind eher gegenseitige Resonanzräume.
Es gebe schon viele Gemeinsamkeiten, sagt Enard, als er das Buch vorstellt, die Leser müssten die Verbindung herstellen - was ist Treue, was ist desertieren, was heißt sich opfern?
In dieser formalen Radikalität hat man das selten gelesen. Es ist das große Thema des Goncourt-Preisträgers: Die Gewalt, die immer neue Gewalt gebiert, die permanente Herausforderung, zu widerstehen.
"Mathematik und Widerstand", so heißt der Festvortrag, den Heudebers Tochter Irina hält, kurz bevor in New York die Twin Towers angegriffen werden.
Sie gestand mir, sie sei froh, dass das 20. Jahrhundert zu Ende gehe; froh zu sehen, dass Europa Fortschritte mache und dass sie sich nichts mehr wünsche, als dass dem 21. Jahrhundert die Schrecken des vorausgegangenen erspart blieben. Leseprobe
Geschrieben wurde "Tanz des Verrats" vor dem Hintergrund der russischen Invasion in die Ukraine, gelesen wird das Buch nun vor dem doppelten Hintergrund immer weiterer verbaler und militärischer Aufrüstung. Und der lodernden Kriege in Ost und Nahost. Enard ist beiden Weltgegenden nicht nur literarisch verbunden. Sein Buch ist ein verstörendes Leseerlebnis.
Tanz des Verrats
- Seitenzahl:
- 256 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
- Verlag:
- Hanser Berlin
- Bestellnummer:
- 978-3-446-27956-8
- Preis:
- 25 €