"Die wilde Schönheit des Lebens": Familiengeschichte voller Poesie
Der autofiktionale Roman "Die wilde Schönheit des Lebens" der Französin Sarah Chiche erzählt von der Familie ihres Vaters, die ihre Heimat Algerien während des Unabhängigkeitskrieges verlassen musste.
Sollten Sie normalerweise den Prolog eines Buches schon mal großzügig überlesen, dann tun Sie das bei Sarah Chiches Roman besser nicht. Denn dieser Prolog ist von einer so sanften, klaren Schönheit, dass es wirklich schade wäre, ihn zu verpassen. Chiche schildert darin das Sterben ihres Vaters Harry:
Es wurde schon Herbst. Seit zwei Tagen wachten sie bei ihm. Am Morgen des dritten Tages senkte sich die Finsternis über ihre Augen. Leseprobe
Harry ist erst 34 Jahre alt und seine Tochter, die Ich-Erzählerin, noch ein Baby. Der frühe Verlust des Vaters und die tragische Familiengeschichte wird sie - viel später - in eine schwere Depression stürzen.
Der Schmerz der Vergangenheit
Sarah Chiche erzählt in ihrem autofiktionalen Roman nicht chronologisch, sondern reiht, wie in einem Fotoalbum, Schnappschüsse aneinander. Da ist beispielsweise das Jahr 1950, die Stadt Algier, aus der die Familie ihres Vaters stammt:
Ein weißer, formloser Fleck, der Gestalt annimmt, als die Stadt bei Einfahrt in den Hafen aus dem Meer auftaucht. Flache Hügel, es riecht nach Jasmin, Anis, Müll, faulendem Obst. Häuser kriechen die Hügel hinauf, ihr nahezu vollkommenes Weiß gibt nur hin und wieder die Sicht auf das Grau eines Platzes oder das dunkle Grün eines Gartens frei. Leseprobe
Ein paar Jahre später, während des algerischen Unabhängigkeitskrieges, muss die jüdische Ärztefamilie fliehen und geht nach Frankreich. Schnell wird ihre neu gegründete Klinik ein finanzieller Erfolg, die Söhne Harry und Armand sollen als Nachfolger aufgebaut werden - ob sie wollen oder nicht. Und als Harry die unkonventionelle, wunderschöne Ève kennenlernt und die von seiner Familie abgelehnt wird, reißt ihn das fast ins Verderben. Jahre später wird seine Tochter diesen Schmerz erben.
Sarah Chiches poetische Sprache ist ein Genuss
Sarah Chiches Roman "Die wilde Schönheit des Lebens" ist so beglückend wie schwer. So viel Kummer und Verzweiflung, aber auch so viel Licht und Hoffnung. Leider bleiben die Charaktere etwas blass, und die vielen Rückblenden verhindern manchmal eine größere Einfühlung. Aber Chiches poetische Sprache ist ein Genuss. Sie trägt diese Geschichte, in der ein Mädchen eingehüllt in Dunkelheit und Verlust aufwächst:
Ich war zwar das Produkt eines Milieus, aber schon als Kind war ich auch das Produkt jener Schmerzen, die erwachsene Menschen nach einem Trauerfall zerstören können, ganz gleich, woher sie kommen. Wir lebten von Gespenstern umgeben. Wir machten unerbittlich Jagd auf sie. Leseprobe
Als junge Frau geht die Erzählerin fast daran zugrunde, sie wird schwer krank. Erst als sie die Vergangenheit annimmt und versteht, dass sie die Liebe ihres verstorbenen Vaters nie verloren hat, kann sie gesund werden. Und darüber schreiben.
Die wilde Schönheit des Lebens
- Seitenzahl:
- 208 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Französischen von Michaela Meßner
- Verlag:
- btb
- Bestellnummer:
- 978-3-442-77482-1
- Preis:
- 14 €