"Die Lungenschwimmprobe": Historischer Roman über Rechtsmedizin
In seiner Heimat Norwegen ist Tore Renberg einer der bekanntesten und erfolgreichsten Schriftsteller. Sein gerade auf Deutsch erschienener Roman "Die Lungenschwimmprobe" spielt in Deutschland. Zugrunde liegt ihm ein wahrer Fall.
Sachsen im 17. Jahrhundert. Die 15-jährige Anna Voigt wird des Kindsmords verdächtigt. Auch für die Tochter eines Gutsherrn und zu Beginn der Frühaufklärung noch ein fast sicheres Todesurteil, gegen das ihr Anwalt mit Hilfe eines Arztes kämpft. Dessen Methode der Lungenschwimmprobe markiert den Beginn der modernen Rechtsmedizin.
Die Begeisterung verrät sein Blick auch heute noch, wenn Tore Renberg erzählt, wie er in einem Buch über Gerichtsmedizin auf den Stoff stieß: "Das war alles ein Zufall. Also ich war bei Recherchen für ein Theaterstück und ich hospitierte dann bei unserem Krankenhaus in Stavanger, Norwegen, wo ich lebe. Und ich fand dieses erstaunliche Material."
Geburt der modernen Gerichtsmedizin
Der Arzt Johannes Schreyer habe das titelgebende Experiment gewagt, erzählt Renberg, "um herauszufinden, ob ein Säugling vor oder nach der Geburt gestorben war. Schon dieses Wort 'Lungenschwimmprobe' ist so poetisch. Auf norwegisch heißt es Lyngeyflyteprøven, also ganz ähnlich. Die Geburt der modernen Gerichtsmedizin. Und ich dachte, das ist ein Roman."
Sinkt die Lunge nach der Autopsie im Wasser, ist das Kind tot geboren. Sinkt sie nicht, enthält sie Luft, es hat gelebt. Doch gerettet ist Anna Voigt erst nach einem langen Prozess über sechs Jahre, inklusive Kerkerhaft und Folter. Um aus den historischen Fakten einen fesselnden facettenreichen Gesellschaftsroman zu machen, hat sich der norwegische Autor gewissenhaft in die sächsische Geschichte vertieft, nicht ahnend, wie schwierig es ist, die Original-Quellen zu lesen: "Aber ja, ich war sowieso wie ein Fisch am Haken."
Historische Genauigkeit, ...
Und Renberg hat auch seine Leser sofort am Haken. Indem er die historischen Personen mit Liebe zum persönlichen Detail und Präzision lebendig werden lässt. Den Leipziger Scharfrichter Christoph Heintze ebenso wie Anna Voigts ehrgeizigen jungen Anwalt Christian Thomasius. Heute vergessen, damals berühmt als Wegbereiter der deutschen Aufklärung.
"Ein cooler Mann", findet der Autor: "Kritisches Denken, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, er war für mich ein Held. Mutig gegen diese orthodoxen schlimme Kräften dieser Zeit. Die Priester von der Kanzel: Immer dieses Sünde, Sünde, Sünde!"
... aber auch ein bisschen dichterische Freiheit
Thomasius‘ Kampf gegen den religiösen Fanatismus des Leipziger Hauptpastors Carpzov malt er anhand der Quellen plastisch aus. Annas Vater dagegen hat der Schriftsteller eine Racheorgie angedichtet, die den Foltermethoden der Zeit in nichts nachsteht. Selbst Vater einer Tochter, sagt Renberg, sei das die spontane Reaktion gewesen beim Gedanken, jemand könne ihr etwas tun.
Ob allerdings die Verbindung zwischen Eltern und Kindern damals so innig und intim war, wie es auch des Stadtphysikus‘ Schreyer Familiengeschichte nahelegt? "Das habe ich mich auch gefragt: Aber es gibt Briefe, gibt viele Quellen, wo man sieht, ja klar, die Mutter und der Vater hatten ihre Kinder geliebt. Also alle diese Gefühle, Rache, Liebe, die sind doch ewig."
Recherchereise mit dem Fahrrad
Recherchiert hat Renberg nicht nur in Archiven, sondern auch vor Ort, um die Vergangenheit zu spüren. Selbst das Rittergut, wo Anna aufgewachsen ist, hat er gefunden. "Also ich überlegte, wie man zu dieser Zeit gereist ist. Diese schlechten Straßen, was war mit Geschwindigkeit, wie kam man von einem Ort zum nächsten. Kann ich das erleben? Heutzutage? Dann habe ich gedacht: Fahrrad! So habe ich eine Fahrradtour von Halle bis Zeitz gemacht, um zu erleben, wie das war."
Klare Sprache, genauer Ton
Wie das war, darauf gibt die "Lungenschwimmprobe" eine Antwort, die mehr als 700 Seiten in ihren Bann zieht. Zwar ist nicht jeder Dialog so glaubwürdig, wie das Bild des volkstümlichen Spektakels am Tag einer Hinrichtung und die sachlich rekonstruierten Methoden der Folterknechte. Doch die klare Sprache zeichnet die Zeit anschaulich und trifft ihren Ton genau.
Dabei spannt das explizite Bekenntnis eines sympathischen Ich-Erzählers, wie viele Fakten der Roman enthält und wie viel Imagination, Phantasie und Empathie, gelungen den Bogen in die Gegenwart. "Ich habe mich selbst so betrachtet wie Annas Anwalt. Mit dieser Anna, ja eine Umarmung, das ist ein sehr gutes Wort."
Die Lungenschwimmprobe
- Seitenzahl:
- 704 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Übersetzt von Ina Kronenberger, Karoline Hippe
- Verlag:
- Luchterhand
- Bestellnummer:
- 978-3-630-87777-8
- Preis:
- 26 €