"Der Schatten einer offenen Tür": Die Unverwüstlichkeit menschlicher Würde
Der in Minsk geborene Schriftsteller Sasha Filipenko steht in offener Opposition zum Präsidenten von Belarus. In seinem neuen Roman zeichnet er ein von pechschwarz-galligem Humor grundiertes Bild der russischen Gegenwart.
Der Roman ist eingeteilt in 24 Gesänge, es folgen noch ein Epilog und ein Postskriptum. Im Epilog wird der Kern des Romangeschehens rekapituliert: Der Moskauer Kommissar Alexander Koslow sollte aufklären, warum es zu einer Suizidserie in einem Kinderheim in der Provinz, in Ostrog kommen konnte. Der dortige Bürgermeister Baumann hat eines Tages beschlossen, Gutes zu tun, indem er Waisenkinder ans Meer schickt, wo sie alle glücklich waren. Doch als die Kinder zurück waren, wurden sie vom Alltag überrollt. Einen Monat oder zwei schafften sie es noch irgendwie, aber dann begannen die Fluchtversuche. Wer versuchte abzuhauen, wurde von den Erziehern zur psychiatrischen Zwangsbehandlung geschickt.
"Der Schatten einer offenen Tür": Geständnis durch Folter
Was für ein eigentümlicher Vorgang: Ein Ausflug von russischen Waisenkindern nach Griechenland, finanziert vom Bürgermeister, wirft Fragen auf. Der Ermittler Koslow ist selbst angeschlagen und tieftraurig, weil seine Frau ihn verlassen hat. Er ist mit sich selbst schwer beschäftigt und außerdem steht längst fest, was er um jeden Preis herausfinden soll. Der arme, vollkommen harmlose Kauz Petja Pawlow, der selbst im Kinderheim aufgewachsen ist, wird beschuldigt, die Jugendlichen ermordet zu haben. Das finden alle seltsam, weil nichts auf einen gewaltsamen Tod hinweist. An der Stelle des Suizids wird eine DNA gefunden, die nicht zum Opfer gehört. Pawlow weigert sich lange, ein Geständnis zu unterschreiben. Er wird ungeheuer grausam gefoltert.
Nach zwanzig Minuten kommen vier Ordnungshüter zurück in die Zelle. Wer wer ist, kann Petja jetzt nicht mehr unterscheiden. Von der lauten Musik und den Schlägen läuft Petja das Blut aus den Ohren. Seine Augen sind geschlossen. Um das Verhör fortzusetzen, lösen die Kollegen ihn vom Fenstergitter und spritzen ihm kochendes Wasser ins Gesicht. Um vier Uhr früh verfügt Michail über Pawlows Unterschrift, das Geständnis liegt vor, der Kreis schließt sich. Die Gerechtigkeit trägt ihren Sieg davon und Petjas geschundener Körper wird aus dem Dienstzimmer geschleift. Die Ermittler waschen sich erst einmal die Hände.
Suizid als Werbung für Waisenheim
Das passiert alles, weil es eben nicht sein kann, dass Kinder aus einem staatlichen Waisenheim nicht mehr leben wollen. Nachdem die Suizide der Jugendlichen bekannt wurden, meldeten sich viele Familien. Sie strömten aus dem ganzen Land als engagierte Eltern in spe herbei: Bürger mit großen Herzen, die sich in einer langen Schlange anstellten, um im Eilverfahren eines der Kinder aus Ostrog zu adoptieren. Die Heimleiterin bemerkt, eine bessere Werbung als die vier Suizide hätte es gar nicht geben können.
Filipenko erzählt von einem großen, überreichen Land mit vielen gebrochenen Kiefern, zerrissenen Herzen, schwer und schwarz, von Verräterbeschimpfungen und Siegesgewissheit, von Modellen der Hölle und ohne Möglichkeiten der Widerrede. Dazwischen ist eine solide verpackte Hoffnung versteckt - die Hoffnung auf bessere Zeiten. Auf die Unverwüstlichkeit menschlicher Würde!
Der Schatten einer offenen Tür
- Seitenzahl:
- 272 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Übersetzt von Ruth Altenhofer
- Verlag:
- Diogenes
- Veröffentlichungsdatum:
- 25. September 2024
- Bestellnummer:
- 978-3-257-61524-1
- Preis:
- 25 €