Buchcover: Sasha Filipenko, "Der Schatten einer offenen Tür“ © Diogenes
Buchcover: Sasha Filipenko, "Der Schatten einer offenen Tür“ © Diogenes
Buchcover: Sasha Filipenko, "Der Schatten einer offenen Tür“ © Diogenes
AUDIO: Sasha Filipenko erzählt von Modellen der Hölle im heutigen Russland (3 Min)

"Der Schatten einer offenen Tür": Die Unverwüstlichkeit menschlicher Würde

Stand: 08.10.2024 06:00 Uhr

Der in Minsk geborene Schriftsteller Sasha Filipenko steht in offener Opposition zum Präsidenten von Belarus. In seinem neuen Roman zeichnet er ein von pechschwarz-galligem Humor grundiertes Bild der russischen Gegenwart.

von Annemarie Stoltenberg

Der Roman ist eingeteilt in 24 Gesänge, es folgen noch ein Epilog und ein Postskriptum. Im Epilog wird der Kern des Romangeschehens rekapituliert: Der Moskauer Kommissar Alexander Koslow sollte aufklären, warum es zu einer Suizidserie in einem Kinderheim in der Provinz, in Ostrog kommen konnte. Der dortige Bürgermeister Baumann hat eines Tages beschlossen, Gutes zu tun, indem er Waisenkinder ans Meer schickt, wo sie alle glücklich waren. Doch als die Kinder zurück waren, wurden sie vom Alltag überrollt. Einen Monat oder zwei schafften sie es noch irgendwie, aber dann begannen die Fluchtversuche. Wer versuchte abzuhauen, wurde von den Erziehern zur psychiatrischen Zwangsbehandlung geschickt.

"Der Schatten einer offenen Tür": Geständnis durch Folter

Was für ein eigentümlicher Vorgang: Ein Ausflug von russischen Waisenkindern nach Griechenland, finanziert vom Bürgermeister, wirft Fragen auf. Der Ermittler Koslow ist selbst angeschlagen und tieftraurig, weil seine Frau ihn verlassen hat. Er ist mit sich selbst schwer beschäftigt und außerdem steht längst fest, was er um jeden Preis herausfinden soll. Der arme, vollkommen harmlose Kauz Petja Pawlow, der selbst im Kinderheim aufgewachsen ist, wird beschuldigt, die Jugendlichen ermordet zu haben. Das finden alle seltsam, weil nichts auf einen gewaltsamen Tod hinweist. An der Stelle des Suizids wird eine DNA gefunden, die nicht zum Opfer gehört. Pawlow weigert sich lange, ein Geständnis zu unterschreiben. Er wird ungeheuer grausam gefoltert.

Nach zwanzig Minuten kommen vier Ordnungshüter zurück in die Zelle. Wer wer ist, kann Petja jetzt nicht mehr unterscheiden. Von der lauten Musik und den Schlägen läuft Petja das Blut aus den Ohren. Seine Augen sind geschlossen. Um das Verhör fortzusetzen, lösen die Kollegen ihn vom Fenstergitter und spritzen ihm kochendes Wasser ins Gesicht. Um vier Uhr früh verfügt Michail über Pawlows Unterschrift, das Geständnis liegt vor, der Kreis schließt sich. Die Gerechtigkeit trägt ihren Sieg davon und Petjas geschundener Körper wird aus dem Dienstzimmer geschleift. Die Ermittler waschen sich erst einmal die Hände.

Weitere Informationen
Buchcover: Sasha Filipenko - Kremulator © Diogenes Verlag

Sasha Filipenkos "Kremulator": Schmales Buch mit monströsem Inhalt

Filipenkos Roman über die Grausamkeiten der Stalin-Zeit liefert auch einen düsteren Kommentar zum Russland von heute. mehr

Suizid als Werbung für Waisenheim

Das passiert alles, weil es eben nicht sein kann, dass Kinder aus einem staatlichen Waisenheim nicht mehr leben wollen. Nachdem die Suizide der Jugendlichen bekannt wurden, meldeten sich viele Familien. Sie strömten aus dem ganzen Land als engagierte Eltern in spe herbei: Bürger mit großen Herzen, die sich in einer langen Schlange anstellten, um im Eilverfahren eines der Kinder aus Ostrog zu adoptieren. Die Heimleiterin bemerkt, eine bessere Werbung als die vier Suizide hätte es gar nicht geben können.

Filipenko erzählt von einem großen, überreichen Land mit vielen gebrochenen Kiefern, zerrissenen Herzen, schwer und schwarz, von Verräterbeschimpfungen und Siegesgewissheit, von Modellen der Hölle und ohne Möglichkeiten der Widerrede. Dazwischen ist eine solide verpackte Hoffnung versteckt - die Hoffnung auf bessere Zeiten. Auf die Unverwüstlichkeit menschlicher Würde!

Weitere Informationen
Ein Buch von Orhan Pamuk steht neben einem Glas türkischem Boza mit Zimt bestreut - Bild zum Podcast eat READ sleep  Folge 28 Türkisches Boza mit David Safier © NDR Foto: Jan Ehler

(28) Türkisches Boza mit David Safier

Einblicke in die türkische Literatur, ein wenig überzeugender Nobelpreisaspirant und eine Kanzlerin auf Mördersuche. mehr

Der Schatten einer offenen Tür

von Sasha Filipenko
Seitenzahl:
272 Seiten
Genre:
Roman
Zusatzinfo:
Übersetzt von Ruth Altenhofer
Verlag:
Diogenes
Veröffentlichungsdatum:
25. September 2024
Bestellnummer:
978-3-257-61524-1
Preis:
25 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 08.10.2024 | 12:40 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Romane

Ein Latte Macchiato, eine Brille und eine Kerze liegen auf einem Buch © picture alliance / Zoonar | Oleksandr Latkun

Neue Bücher 2024: Die interessantesten Neuerscheinungen

Unter anderem gibt es Neues von Dana von Suffrin, Michael Köhlmeier und Bernardine Evaristo. mehr

Logo vom NDR Kultur Podcast "eat.READ.sleep" © NDR Foto: Sinje Hasheider

eat.READ.sleep. Bücher für dich

Lieblingsbücher, Neuerscheinungen, Bestseller – wir geben Tipps und Orientierung. Außerdem: Interviews mit Büchermenschen, Fun Facts und eine literarische Vorspeise. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Ein roter Backsteinbau mit der Aufschrift "Edith Russ Haus für Medienkunst" in roten großen Buchstaben auf dem Dach © ERH

NSDAP-Mitgliedschaft von Edith Russ belegt: Folgt die Umbenennung?

Die Kunstmäzenin Edith Russ war Mitglied der NSDAP. Diesen Vorwurf hat ein Gutachten im Auftrag der Stadt Oldenburg bestätigt. mehr