"Blitz aus heiterm Himmel": Gender-Erzählungen in der DDR
Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgens auf und haben plötzlich ein anderes Geschlecht. "Blitz aus heiterm Himmel" versammelt fantasievolle Erzählungen zu diesem Thema - ein literarisches Kleinod.
Ein Buch mit dem Titel gab es schon einmal: 1975 ist "Blitz aus heiterm Himmel" in nur einer Auflage in der DDR erschienen und wurde sofort zum vergriffenen Kultbuch. Im Westen Deutschlands wurden die in dieser Anthologie aufgeworfenen Fragen nach Gleichberechtigung erst deutlich später literarisch bearbeitet. Ein halbes Jahrhundert nach dem Erscheinen von "Blitz aus heiterm Himmel" hat jetzt der Aufbau Verlag die Erzählungen rund um Geschlechtertausch wieder aufgelegt - mit spannenden Anmerkungen zur Entstehungsgeschichte.
Eine verrückte Idee
Es ist der 17. Juni 1970, Edith Anderson feiert mit anderen Autorinnen und Autoren und Lektoren den Geburtstag ihres Kollegen Gotthold Gloger. Da kommt die aus New York stammende Jüdin auf eine verrückte Idee: Stellt Euch vor, Ihr wacht morgens auf mit einem anderen Geschlecht. Namhafte Literaten der DDR bittet sie, das Gedankenexperiment in Erzählungen münden zu lassen. Viele geben Anderson einen Korb.
Eine Frau, das ist ja schlimmer als Kafka! Viel viel schlimmer als zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt zu werden. Franz Fühmann
O verflucht, o verflucht, ein ganz erschreckender Traum! Hermann Kant
Blinde Flecken der DDR-Gesellschaft
Was macht das Experiment 1970 so brisant? In seinem spannenden Essay - als Nachwort in der neuen Ausgabe - schreibt der Neubrandenburger Literaturwissenschaftler Carsten Gansel:
Dass Frauen zwar pro forma gleichberechtigt sein sollen - verfassungsmäßig garantiert -, aber in der Praxis das anders aussieht. Und diese Geschlechtertauschgeschichten, die bringen nun auf den Punkt, was da an Unerledigtem noch nach wie vor existiert und die führen an blinde Flecken der damaligen DDR-Gesellschaft. Leseprobe
Die Frauen müssen trotz Berufstätigkeit den Haushalt schmeißen und die Kinder erziehen. Dass patriarchalische Strukturen immer noch vorhanden sind, wollen die Parteifunktionäre nicht lesen und sabotieren das Buchprojekt. Lektoren und Verlagsleiter bei Aufbau und Hinstorff knicken ein. Es wird fünf Jahre dauern, bis die Anthologie von Edith Anderson in einer einzigen Auflage erscheint.
Wie fühlt es sich an, im anderen Geschlecht zu stecken?
Es sind brisante Erzählungen, unter anderem von Christa Wolf. In "Selbstversuch" wird eine erfolgreiche Wissenschaftlerin, unverheiratet, streitbar von ihren männlichen Kollegen unterschwellig immer belächelt:
Problemgeladene Frauen mag Doktor Rüdiger nicht besonders - und wer mag die schon? Sie mögen sich ja nicht mal selbst, sofern sie intelligent genug sind, die Zwickmühle zu sehen, in der sie stecken: zwischen Mann und Arbeitsdrang, Liebesglück und Schöpfungswillen, Kinderwunsch und Ehrgeiz ein Leben lang zickzack laufen wie eine falsch programmierte kybernetische Maus. Leseprobe
Christa Wolfs Erzählung könnte auch heute, 50 Jahre nachdem die Anthologie erschienen ist, spielen. Die Wissenschaftlerin lässt sich freiwillig von einem Kollegen in einen Mann verwandeln. Es liegt außerhalb der Vorstellungskraft des Kollegen, dass die Person jemals wieder eine Frau sein möchte.
In einer anderen Geschichte malt sich Günter de Bryun aus, wie viel Zeit er - nun als Frau - damit verbringt, auf sein Äußeres zu achten:
Ich war inzwischen so weit, dass ich die Frage nach meiner Wirkung auf Männer für eine nach meinem Wert oder Unwert hielt. Leseprobe
Erzählungen voller Spielwitz
Die Erzählungen in "Blitz aus heiterm Himmel" stecken voller Spielwitz. Bei Sarah Kirsch kommt ein Lastwagenfahrer nach der Arbeit zu seiner Freundin, die inzwischen zu Max geworden ist, aber das ist nebensächlich, sie schippen gemeinsam Kohlen und steigen dann unter die Dusche.
Max fühlte das Wasser auf den Schultern im Rücken kälter werden und hielt das dritte Bein in die Luft. Albert sah es und richtete den Hohlnerv zum Himmeläquator. Er lachte. Max zog nach und lachte Tränen. Sie schrubbten sich vom Kohlendreck frei und pfiffen die schönsten Wendungen aus italienischen Opern. "Das war wien Blitz aus heiterm Himmel" fing Max den Satz an und Albert sagte unter dem Handtuch hervor: "Was könn wir denn essen, ich muss erst mal was innen Bauch kriegen." Leseprobe
In Sarah Kirschs lakonischer Erzählung hält wahre Liebe die Verwandlung aus und zeigt neue Formen.
Auch die Texte von Annemarie Auer, Edith Anderson, Rolf Schneider, Karl Heinz Jakobs und Gotthold Gloger aus den 1970er-Jahren sind fantasievoll und fantastisch. Ein literarisches Kleinod.
Blitz aus heiterm Himmel. Erzählungen
- Seitenzahl:
- 300 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Die andere Bibliothek
- Bestellnummer:
- 978-3-8477-0484-3
- Preis:
- 48 €