Abwesend anwesend: Fernando Aramburus Roman "Der Junge"
In Fernando Aramburus rührender Geschichte versucht eine Familie nach dem tragischen Verlust des Sohnes wieder zurück ins Leben zu finden. Der Roman "Der Junge" handelt auch von der Macht der Fantasie.
Am 23. Oktober 1980 sind bei einer Gasexplosion in einer Grundschule im spanischen Ort Ortuella 50 fünf- bis sechsjährige Schüler gestorben, außerdem zwei Lehrer und eine Köchin. Ortuella liegt im Baskenland, dort, wo Fernando Aramburu geboren wurde und aufgewachsen ist. Und da der heute 66-jährige Autor, der mit seinem Roman über die ETA, "Patria", international bekannt wurde, sowieso schon in mehreren Büchern über einfache Menschen aus dem Baskenland geschrieben hat, lag es auf der Hand, dass er irgendwann auch über die dramatische Gasexplosion in Ortuella schreiben würde.
Eine Familie versucht zu vergessen
1980 sorgt eine Propangasexplosion in einer Grundschule im spanischen Baskenland für eine Tragödie. Dieses reale Ereignis hat Fernando Aramburu zu seinem Roman "Der Junge" inspiriert: "Das ist eine heikle Sache", gibt der Autor zu. "Es ist sehr schmerzlich, 50 Kinder in einem Dorf zu verlieren. Man kommt da als berühmter Schriftsteller an, der sein Büchlein auf Kosten der Schmerzen von Anderen schreibt. Diese Rolle wolle ich auf keinen Fall spielen."
Tatsächlich ist Aramburus Roman überhaupt nicht voyeuristisch. Einfühlsam schildert er eine rein fiktive Familie, die ihren Sohn Nuco bei dieser Explosion verloren hat. Jedes Familienmitglied verfolgt eine jeweils andere Strategie, um nicht am Tod Nucos zu zerbrechen. Sein Vater José Miguel blendet die Vergangenheit aus. Nucos Mutter Mariaje versucht zwar auch zu vergessen, wird aber von der Erinnerung an ihren Sohn immer wieder eingeholt. Auch deshalb, weil ihr Vater, Nucos Großvater Nicasio, so tut, als würde der Junge noch leben. Nicasio spricht nicht nur auf dem Friedhof mit seinem Enkel. Er lässt auch Nucos Kinderzimmer von einer Umzugsfirma ausräumen und in seiner eigenen Wohnung wieder aufbauen - und verunsichert damit Mariaje:
Nicasio kam ihr mit der Geschichte, dass sein Enkelsohn jetzt bei ihm wohnte. Dann hast du ja, was du wolltest. Aber lass José Miguel und mich bitte raus aus deiner Illusion. Die Worte seiner Tochter trafen Nicasio wie ein Schlag mit dem Hammer. Was für eine Illusion, wovon redest du? Da, schau, fass an, hier ist alles so echt wie du und ich. Leseprobe
Minimalistische Beschreibungen sorgen für Lebendigkeit
Man sieht den Großvater, diese grandiose Figur, sofort bildlich vor sich. Nicht etwa, weil Aramburu das alles sprachlich ausschmücken würde. Im Gegenteil schreibt er, entsprechend getreu von Willi Zurbrüggen übersetzt, minimalistisch, mit äußerst sparsamem Einsatz von Adjektiven. Das kommt zwar nicht an die Virtuosität des Minimalisten Jon Fosse heran, regt uns Leser aber trotzdem an, die Beschreibungslücken mit unserer Vorstellungskraft zu füllen. So sehen wir plastisch wie im Film vor uns, wie Nicasio auf der Straße einen Jungen aufliest, wohl, weil er glaubt, es handle sich um seinen Enkel, und deshalb vorübergehend für einen Kindesentführer gehalten wird.
Als störende Fremdkörper wirken dagegen die zehn Einschübe, in denen Aramburu seinen Text personifiziert und sprechen lässt: "Ich dachte, so eine Technik wäre angebracht, um Leser, Leserinnen daran zu erinnern, dass sie nicht die Wahrheit auf der Hand haben, sondern Literatur. Es geht darum, dass sich der Text dessen bewusst ist, dass er als Grundlage für eine Geschichte dient. Und er darf sich einmischen. Er diskutiert mit dem Autor."
"Der Junge": Ein geglückter Roman
Ungeachtet dieser postmodernen Spielerei ist Fernando Aramburu eine rührende Geschichte gelungen. Die Eltern blicken wieder hoffnungsvoll in die Zukunft, weil sie einen erneuten Kinderwunsch hegen, bis ein vom Leser früh erahntes Geheimnis Mariajes zu einer weiteren Tragödie führt. Dass Aramburu trotzdem noch ein halbwegs versöhnlicher Schluss gelingt, hat auch mit der liebevoll gezeichneten Figur des Großvaters Nicasio und dessen störrischer Realitätsverweigerung zu tun: "Manchmal bin ich etwas grausam mit meinen Protagonisten", findet Aramburu. "Aber nicht mit dem Großvater. Da habe ich ihn respektiert und sogar auf eine Art und Weise geliebt."
"Der Junge" von Fernando Aramburu ist ein insgesamt geglückter Roman über den tragischen Verlust eines Kindes inmitten vieler, den Versuch seiner Angehörigen, wieder zurück ins Leben zu finden, und die Macht der Fantasie.
Der Junge
- Seitenzahl:
- 256 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen
- Verlag:
- Rowohlt
- Veröffentlichungsdatum:
- 18. Februar 2025
- Bestellnummer:
- 978-3-498-00738-6
- Preis:
- 25 €
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Romane
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