Sabine Adler: Was wird aus Russland?
Die bekannte langjährige Osteuropa-Korrespondentin (Moskau, Warschau, Kiew) und jetzige Osteuropa-Expertin (Berlin) des Deutschlandfunks schreibt, wie sie es im Untertitel formuliert, über eine "Nation zwischen Krieg und Selbstzerstörung".
Oft lauten Buchtitel so: ein Land zwischen Angst und Hoffnung, zwischen Tradition und Aufbruch, zwischen Zweifel und Selbstbewusstsein o.ä.. Hier ist es dagegen eine Alternative aus zwei finsteren Begriffen. Eine positive Perspektive kann die Autorin nicht erkennen. Aber sie kann - mit illusionslosem Blick - sehr genau schildern, warum das so ist.
Wie funktioniert Putins Machtsystem? Wo kommen seine engsten "Mitarbeiter" her? Welche innenpolitische Funktion hat der Ukraine-Krieg? Welche Rolle spielen Privatarmeen (wie WAGNER)? Haben die Minderheiten-Völker das Potenzial, Moskaus Macht zum Wanken zu bringen? Wo gibt es noch zivilen Protest und kritische Stimmen? Warum sind immer noch so viele Russinnen und Russen von Putin überzeugt? Gibt es ein russisches Selbstbild, das ganz anders ist, als wir vermuten?
Putin als Chef einer Gangsterbande
Sabine Adler geht diesen Fragen nach, beschreibt zunächst die Schwierigkeiten, heute überhaupt noch anderes als Propaganda aus Russland zu erfahren, entwirft aber aufgrund ihrer eigenen Kenntnisse und gezielter Recherchen ein plastisches Bild. Im Gegensatz zu anderen Russland-Analysen sieht sie den Motor des Systems Putin nicht im rückwärtsgewandten Traum von zaristischer Größe, nicht im Panslawismus, nicht in der Beschwörung russischer Einzigartigkeit. All das gehört zur Rhetorik und wohl auch zum Weltbild des Mannes im Kreml.
Aber in erster Linie beschreibt Adler Putin und die Seinen als eine Gangsterbande. Geld und Macht sind das Einzige, was ihn und seine alten Kumpel aus dem Leningrad der 90er (und aus dem KGB) wirklich interessieren. An der Ukraine reizt Putin womöglich der großrussische Traum, auf jeden Fall aber reizt ihn das "weiße Gold", die großen Lithium-Vorkommen (S.231). Besonders aufschlussreich sind die Porträts der Freunde Putins. Mit ihnen, schreibt Adler, hat er das Land in einen "gefährlichen Mafiastaat" verwandelt. Darum hat sie auch kein Verständnis für westliche Positionen, die um Verständnis für Putin werben.
"Sedierte Gesellschaft"
Dem Regime gegenüber steht eine "sedierte Gesellschaft". Adler schildert die Russen aber nicht nur als Opfer staatlicher Propaganda. Indifferenz, Lethargie, Angepasstheit und Zynismus - nie verlernte Haltungen aus sowjetischer Zeit - prägen immer noch die Menschen. Gepaart mit der Überzeugung, trotz allem eine auserwählte Nation zu sein, anders als der Rest der Welt, unverstanden vom Rest der Welt, besser als der Rest der Welt. Beides, Phlegma und Stolz, macht sich Putin zunutze. Hinzu kommt die gesellschaftlich weit verbreitete Akzeptanz von Gewalt - in der Ehe, in der Erziehung, beim Militär, auf der Straße, in der Politik (selbst noch bei der Deportation ukrainischer Kinder, die als Rettung verkauft wird).
Sabine Adler betont, dass Russland sich nicht ändern wird, wenn die sozialen Normen und die gesellschaftliche Moral sich nicht ändern. Sie stammen z.T. auch noch aus vorsowjetischer Zeit (z.B. das Bild vom Herrscher als Besitzer des Landes). Solange die Menschen sich mit all dem zufrieden geben - und sei es, weil sie zu bequem für Veränderungen sind -, wird eine echte Demokratisierung ausbleiben. Das Kapitel "Der Traum von Russlands Läuterung" ist das kürzeste des Buchs.
Einige junge Menschen nennen Putin den "Opa im Bunker" - reicht das als Munition für den Widerstand? Einige Minderheiten in den ehemaligen Sowjetrepubliken melden Ansprüche auf Autonomie an - haben sie bessere Aussichten als die Tschetschenen? Und ist nicht der Ukraine-Krieg die größte Überlebenschance für den Diktator? Und sollte Putin politisch nicht überleben, wird er von einem seiner Kumpel ersetzt? Kann es jemals ein Ende der Spirale aus Korruption und Gewalt geben?
Finstere Zukunftsdimension
Natürlich veraltet ein Buch vom Januar 2024 (Vorwort) tagtäglich, wenn man es nur auf die aktuelle Kriegsentwicklung beziehen will. Aber die Strukturen, die Machtverhältnisse und die Mentalitäten, die Adler beschreibt, liegen tiefer - und überdauern womöglich auch noch den Ukraine-Krieg. Das ist die finstere Zukunftsdimension dieses Buchs, das klar, verständlich und spannend geschrieben ist.
Krieg oder Selbstzerstörung: Sabine Adler macht sich keine Illusionen über das heutige Russland. Vielleicht auch, weil sie in der DDR aufgewachsen ist und viele sowjetische Muster wiedererkennt. Der nüchterne Realismus ist eine besondere Qualität ihres Buchs. Illusionen über Russland haben wir uns im Westen allzu lange gemacht.
Was wird aus Russland?
- Seitenzahl:
- 336 Seiten
- Genre:
- Sachbuch
- Verlag:
- Ch. Links Verlag
- Veröffentlichungsdatum:
- 14.02.2024
- Bestellnummer:
- 978-3-96289-209-8
- Preis:
- 22 €