"Zur See": Dörte Hansen schreibt vom Verschwinden an der Nordsee
In ihrem dritten Buch "Zur See" erzählt Dörte Hansen von einer alteingesessenen Insel-Familie. Alle Familienmitglieder sind eng mit der Insel verbunden, leben aber komplett nebeneinander her.
Es gibt sie, wenn auch nur selten. Diese Bücher, in die man sich gleich nach wenigen Sätzen rettungslos verliebt:
Auf einer Inselfähre, irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland, gibt es einen, der die Leinen los- und festmacht, und immer ist er zu dünn angezogen für die Salz- und Eisenkälte eines Nordseehafens. Falls er an Herbst- und Wintertagen eine Mütze trägt, bedeckt sie keinesfalls die Ohren. Handschuhe trägt er nie. (…) Und immer sieht die Jacke, die er trägt, so aus, als hätte sie den Ahnen schon gehört. Leseprobe
Dörte Hansen braucht wenige Worte, um Menschen zu zeichnen
Dörte Hansen braucht nicht viele Worte, um einen Menschen zu zeichnen, eine Welt zu entwerfen. Die Bilder im Kopf entstehen sofort, ganz unmittelbar. Eine windumtoste, namenlose Insel in der Nordsee:
Alle Inseln ziehen Menschen an, die Wunden haben, Ausschläge auf Haut und Seele. Die nicht mehr richtig atmen können oder nicht mehr glauben, die verlassen wurden oder jemanden verlassen haben. Und die See soll es dann richten, und der Wind soll pusten, bis es nicht mehr wehtut. Leseprobe
Dörte Hansen verzichtet fast ganz auf Dialoge
Dörte Hansen erzählt die Geschichte der alteingesessenen Insel-Familie Sander. Vater Jens lebt seit 20 Jahren zurückgezogen und einsam auf einer Vogelwarte. Seine Frau Hanne dagegen scheint ruhelos zu sein, wie getrieben, bloß nicht stehenbleiben.
Sie hätten anders leben können, er und Hanne. Stattdessen haben sie das Leben ihrer Eltern fortgesetzt, Seefahrer und Seemannsfrau gespielt, die Wut für eine alte Wut gehalten und die Verletzungen für unvermeidlich. Ein Erbe angetreten, das man auch hätte ausschlagen können. Und ihren Ältesten nicht davon abgehalten, diesen Fehler noch einmal zu machen. Leseprobe
Denn Rykmer Sander hatte ein traumatisches Erlebnis auf See, das ihn zum Alkoholiker werden ließ. Auch seine Geschwister haben ihr Päckchen zu tragen. Alle Familienmitglieder sind eng mit der Insel verbunden, leben aber komplett nebeneinander her. Geredet wird wenig - und das ist im ganzen Buch so, gibt Dörte Hansen zu: "Ich weiß nicht, warum ich mich so scheue vor Dialogen. Vielleicht weil ich meine Figuren eher so ein bisschen in ihrer Tarnung lasse und in dem Moment, wo sie sprechen, werden sie ja sehr konkret."
An das Fehlen der Dialoge hat man sich als Leserin schnell gewöhnt. Denn gesagt wird in diesem Buch trotzdem viel. Als ein Wal - ausgerechnet ein Wal! - auf der Insel strandet, ist das der Wendepunkt der Geschichte. Plötzlich scheinen viele Dinge möglich. Ohne zu viel zu verraten: Es gibt Hoffnung - auch für die Familie Sander, die sich noch einmal ganz neu erfindet.
Sehnsucht nach dem Meer
Viele Menschen verspüren eine Sehnsucht nach dem Meer - aber warum eigentlich? Diese Frage stellte sich Dörte Hansen, bevor sie mit dem Schreiben von "Zur See" begann. Außerdem geht es in ihrem Buch um eine Zeitenwende: "Aus dieser Insel, die ganz lange von der Seefahrt geprägt war, wird eine Insel, auf der die Leute mittlerweile von Dienstleistungen leben", sagt Dörte Hansen. "Sie kümmern sich um die Touristen, sie fahren Touristen mit den Kutschen um die Insel, sie vermieten an ihre Gäste Zimmer. Die Frage ist: Wenn die alten Gesetze und die alten Regeln nicht mehr gelten - was machen wir dann? Wie reagieren die Individuen darauf?"
"Zur See": Eines der besten Bücher der Saison
"Zur See" ist Dörte Hansens bislang bestes Buch. Vor allem, weil sie so einen besonderen Ton dafür gefunden hat, an dem sie lange getüftelt hat. Manchmal bewegt sich das haarscharf am Rande des Kitsches, manchmal klingt das knapp, verkürzt, lakonisch.
Es geht in diesem Roman ums Verschwinden - wie in ihren anderen Romanen auch. Warum sie immer wieder auf dieses Thema zurückkommt, das kann Dörte Hansen selbst gar nicht so genau definieren. Muss sie auch gar nicht - ihr Roman spricht für sich. Definitiv eines der besten Bücher der Saison!
Zur See
- Seitenzahl:
- 256 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Penguin
- Bestellnummer:
- 978-3-328-60222-4
- Preis:
- 24 €