"Whiteout": Roman einer Expedition in die Eiswüste der Antarktis
Die Hamburger Autorin Anne von Canal erzählt in "Whiteout" von einer Wissenschaftsexpedition und einer Jugendfreundschaft. Der Roman war im September 2017 das NDR Buch des Monats.
"Unser Herz schlägt nicht mehr", lautet der erste Satz und er zieht die Leser gleich mitten hinein ins Geschehen. Der Autorin ist damit ein preiswürdiger Auftakt gelungen. Denn wer wollte nicht wissen, was da passiert ist? Der Generator ist ausgefallen, eine Katastrophe für die Forschungsgruppe fernab der Zivilisation in der Eiswüste der Antarktis.
Anne von Canal erzählt die Geschichte aus der Sicht der Wissenschaftlerin Hanna. Sie leitet die fünfköpfige Expedition, die über eine Tiefenbohrung in das Eis neue Erkenntnisse über das Klima der Vergangenheit gewinnen will. Denn eingeschlossen im Eis sind Luftblasen, deren Gase man lösen und dann analysieren kann. "Das ist wirklich so faszinierend, finde ich. Der antarktische Eisschild ist an der dicksten Stelle vier Kilometer dick und da geht man Jahrmillionen zurück und kann diese Luft befreien", sagt Anne von Canal.
Anne von Canal hat im Eislabor des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven recherchiert und ein Forschungsteam in die Arktis begleitet. Geschickt verknüpft sie ihre Beobachtungen und die wissenschaftlichen Fakten mit dem Romangeschehen.
Irgendjemand ist plötzlich weg
"Whiteout" lebt von der Spannung, ob es Hanna und ihrer Gruppe gelingt, an die eingeschlossenen Luftblasen in der Tiefe des Eises heranzukommen. Aber "Whiteout" ist auch ein psychologischer Roman. Denn eine E-Mail von ihrem Bruder konfrontiert Hanna plötzlich mit ihrer Kindheit und Jugend und dem Verschwinden ihrer besten Freundin Fido.
Sie waren ein unzertrennliches Trio gewesen und die Antarktis hatte eine große Bedeutung für sie gehabt. Beflügelt durch ein Hörspiel, war der "Wettlauf zum Südpol" des Norwegers Roald Amundsen und des Briten Robert Scott Gegenstand ihrer kindlichen Fantasien gewesen. Später würden sie alle drei einmal Polarforscher werden, hatten sie einander geschworen. Doch nur Hanna verwirklichte ihren Jugendtraum. Die Freundin hatte sich nach einer gemeinsamen Reise verabschiedet und war nie wieder aufgetaucht.
"Als ich angefangen habe, mich mit diesem Thema zu beschäftigen, habe ich im Freundeskreis mit Leuten darüber gesprochen und fast jeder in meinem Bekanntenkreis kannte so eine Geschichte, wo irgendjemand plötzlich weg war. Das ist wie eine schlecht verheilte Wunde, die man immer wieder aufknibbelt und die immer ein Entzündungsherd bleibt. Weil man keine Antwort bekommt, warum das passiert ist", so die Autorin.
Ein eisiger Moment, der nie antaut
In der leeren Weite der Antarktis lassen sich die Erinnerungen an die verschwundene Freundin nicht mehr wie sonst verdrängen. Hanna, die beruflich die tiefen Schichten des Eises erforscht, muss sich nun auch mit den tiefen Schichten ihrer Persönlichkeit befassen.
"Eigentlich ist Hanna in einem inneren Eiszustand. Zumindest in der Beziehung zu Fido, seit sie weg ist. Das ist der eingefrorene Moment in ihr und er ist nie angetaut. Ich fand, dass sich das thematisch unheimlich gut verbindet und dass das Eis ein ganz starkes metaphorisches Element ist", erklärt Anne von Canal.
Aber zum Glück reizt Anne von Canal ihre Metapher nicht aus und übertreibt es mit der Tiefenbohrung nicht. "Whiteout" überzeugt durch seine poetische Kraft und Vielschichtigkeit.
"Whiteout ist ein meteorologisches Phänomen in Schnee- und Eislandschaften, wenn durch Schneesturm oder Nebel die Sicht verschwindet und man die Horizontlinie nicht mehr sieht", sagt die Autorin. "Dadurch verliert man komplett die Orientierung für oben und unten" - so wie Hanna, die erkennen muss, dass Erinnerungen auch Trugbildern gleichen können.
Whiteout
- Seitenzahl:
- 192 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Mare Verlag
- Bestellnummer:
- 978-3-86648-247-0
- Preis:
- 20,00 €