NDR Buch des Monats November: "Unsereins" von Inger-Maria Mahlke
Inger-Maria Mahlke hat die Handlung ihres historischen Familienromans in Lübeck, wenige Jahre nach Thomas Manns "Buddenbrooks", angesetzt. In ihrem Werk stellt sie die Frauen in den Vordergrund, die in Manns Roman wenig beachtet werden.
Ist es möglich, einen Familienroman über Lübeck zu schreiben, ohne an die "Buddenbrooks" von Thomas Mann zu denken? Wohl kaum. Insofern ist es klug, wie Inger-Maria Mahlke mit diesem literarischen Schwergewicht umgeht. Sie bezieht es mit ein. Die Erzählung beginnt im Jahr 1890, einige Jahre nach dem Ende der "Buddenbrooks". 1890 ist Thomas, "Tomy", 15 Jahre alt. Die Mitschüler nennen ihn spöttisch "Pfau" - allzu gern lässt er sich bewundern.
In "Unsereins" geht es um das, "was Thomas Mann prägte und was in die 'Buddenbrooks' eingeflossen ist", erklärt Inger-Maria Mahlke. "Es geht mir sehr stark um dieses konservative, auch recht antisemitische Milieu, in dem Thomas Mann groß geworden ist. Diese Haltung sieht man auch in den Personenbeschreibungen oder den Beschreibungen von politischen Vorgängen in den 'Buddenbrooks'."
Inger-Maria Mahlke erzählt Leben einer jüdischen Familie
Im Mittelpunkt des Romans steht die gut situierte jüdische Familie Lindhorst mit ihren acht Kindern. Mahlke begleitet sie bis ins Jahr 1906. Aber nicht nur sie: Sie zeigt auch das Leben der Dienstboten. Ida, das Mädchen, muss rund um die Uhr zur Verfügung stehen, ist den Launen der Herrschaft schutzlos ausgesetzt.
Nach Jahren meldet sie sich heimlich zu einem Stenokurs an: "Die Hoffnung von Ida ist, durch einen Job als Tippmamsell - das war die erste Bezeichnung für Sekretärin oder für Frauen, die im Büro arbeiteten - ein selbstgestaltetes Leben führen zu können", sagt Inger-Maria Mahlke. "Mit einer Tür, die sie schließen kann und an die ein Mensch klopfen muss, wenn er etwas möchte."
"Niemand scheint sich an ihrer Anwesenheit zu stören, niemand würdigt sie eines Blickes. Ohne aufzusehen trägt der Referent Ida Stuermann in die Teilnehmerliste für den Vier-Uhr-Kurs ein. Es mache nichts, wenn man wegen der Schicht nicht jede Woche kommen könne, hat er zu dem vor ihr Stehenden gesagt." Leseprobe
Gesellschaftliche Stereotype
Charlie Helms ist als Lohndiener ebenfalls abhängig von den wohlhabenden Familien. Allerdings kann er sich seine Arbeitgeber inzwischen aussuchen. Er spielt eine wichtige Rolle auf dem Heiratsmarkt und hilft beim Knüpfen gesellschaftlicher Kontakte. "Der Gesellschaftsbesuch der damaligen Zeit dauerte im Durchschnitt sieben bis zehn Minuten und war in seinem Ablauf komplett festgelegt", erklärt Mahlke. "Von Ankommen, Visitenkarte abgeben bis zur Begrüßung, Gesprächsthemen, die Ablehnung, wenn einem etwas zu trinken angeboten wurde - annehmen galt als unhöflich - und dann der elegante Abschied."
Doch Charlie ist schwul. Ein Nachbar verrät ihn und Charlie landet im Gefängnis. Inger-Maria Mahlke entfaltet über knapp 20 Jahre ein breites gesellschaftliches Panorama: Sie zeigt den Aufstieg der Sozialdemokratie, den die starre Kaufmannschaft nicht verhindern kann, denn die Industrialisierung macht auch vor Lübeck nicht Halt. Sie beschreibt die Macht der Männer - im Senat und in der Familie. Nur ganz allmählich können sich die Frauen zumindest ein wenig daraus befreien, doch viel Freiraum ist nicht in dem durch Stereotype geprägten System.
Inger-Maria Mahlke verknüpft Historie und Fiktion
Mahlke hat umfänglich recherchiert. Geschickt verknüpft sie Historie und Fiktion. Dabei liegt die Stärke auch in dem, was sie nicht ausschmückt, weil die Fantasie der Leser die Lücken von selbst füllen kann. Sichtlich Spaß hat sie an ironischen Brechungen und an dem Spiel mit den "Buddenbrooks". 1901 erscheint der Roman von "Tomy" und sorgt für viel Unruhe, auch bei Familie Lindhorst:
"'Wir kommen darin vor.' Sie blickt erstaunt auf. 'Du kannst dich freuen, dich nennt er eine Schönheit.' (...) Seine Schultern bewegen sich nach oben, auch wenn er wünschte, sie täten es nicht. 'Eingefallene Brust, gelblicher Teint, spitzige lückenhafte Zähne - so beschreibt er mich.' Leseprobe
Wer ist wer? Auch mit "Unsereins" ließe sich dieses Spiel spielen. Familie Lindhorst hat Mahlke zum Beispiel der Familie "Hagenström" in "Buddenbrooks" nachempfunden. Aber noch besser ist es, diesen virtuos komponierten Roman einfach zu lesen. Und vielleicht gleich noch einmal zu lesen. So viel steckt drin.
Unsereins
- Seitenzahl:
- 496 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Rowohlt Verlag
- Veröffentlichungsdatum:
- 14. November 2023
- Bestellnummer:
- 978-3-498-00181-0
- Preis:
- 26,00 €