NDR Buch des Monats Juli: "Das Summen unter der Haut"
Stephan Lohses Roman "Das Summen unter der Haut" katapultiert in das schweißgetränkte, holprige Liebeserwachen eines schwulen Teenagers in den 70er-Jahren.
Es ist das Jahr 1977: Supertramp dröhnt aus dem Zimmer von Julles Schwester. Aber gutbürgerlich ist hier die Fassade - und nicht nur die. Man schickt sein Kind zum musischen Gymnasium. Es riecht am Sonntagmorgen nach Speck und nach Chrompolitur in der Garage. Es wird Monopoly gespielt, bis der Vater die Niederlage ahnt und ausrastet. Die Mutter kniet im Garten und drapiert die Bodendecker immer mal wieder neu. Eine Vorzeigefamilie. Aber die Luft flirrt in diesem Sommer für den 14-jährigen Julle. Es erwischt ihn, als Axel Peschke, der Neue, den Klassenraum betritt. Das ist Julles Stunde null. Vier Tage später ist sein Körper eine Art Liebesheizkraftwerk.
"Von den achtzig Stunden waren zweiundzwanzig Stunden Unterricht. In diesen zweiundzwanzig Stunden habe ich, weil ich mich ja schlecht umdrehen konnte, versucht, Axel mit dem Rücken wahrzunehmen. Meine rechte, ihm zugewandte Seite wurde zu einer Art Antenne….eine empfindliche Fläche, die summend warm wurde. Als würde sich mein Gehirn in dieser Fläche befinden und sie aufheizen." Auszug aus "Das Summen unter der Haut"
Das Liebeserwachen eines homosexuellen Teenagers
Die erste Liebe und die vielen peinlichen Situationen, die sich einbrennen: Mit Stephan Lohses Roman wird man katapultiert in das schweißgetränkte, holprige Liebeserwachen. In diese Zeit, in der plötzlich die einfachsten Dinge nicht mehr funktionieren: gehen, reden, atmen. Und während Julle verliebt ist in Axel, der neben ihm im Freibad liegt, gibt Nana Mouskouri den Takt vor.
"Vier-viertel, in Dur, Gitarre, Chor, Tamburin. Ich gehe auf ein musisches Gymnasium, was soll ich machen? Eine Frau mit Akzent begrüßt am Morgen den Sonnenschein. Über uns brennt die Sonne schon seit Stunden Löcher ins Blau. Es wird nicht ganz klar, mit wem die Frau in der Nacht die allerschönsten Stunden verbracht hat. Auf jeden Fall soll der Sonnenschein nicht traurig sein, denn so ist das eben, singt die Frau und macht einen Reim auf Leben." Auszug aus "Das Summen unter der Haut"
"So ist das eben!" - das ist der Reim auf‘s Leben im Schlager. Julle aber steht das Coming-out noch bevor, und "so ist das eben" kommt als mögliche Antwort seiner Umgebung darauf nicht vor.
Klischees belasten das Aufwachsen
Stephan Lohse ist in dieser Zeit in Hamburg aufgewachsen. Er erinnert sich, für ihn gab es keine Vorbilder, nur Klischees. "Schwul sein hindert einen nicht daran, selber an Klischees zu glauben, auch an schwulenfeindliche Klischees. Es gab den Friseur mit Minipli, es gab die Detlefs, es gab die warmen Brüder", erinnert sich der Autor. "Ein Onkel von mir hat mal gesagt: Der ist so warm, dass er mit der flachen Hand bügeln kann. Ich habe diese Klischees, diese verächtlichen Bilder verinnerlicht wie jeder andere auch."
Seine Romanfigur Julle notiert im Religionsheft die neun Dinge, die unbedingt vermieden werden müssen. Die Beine übereinanderschlagen - bloß nicht! Gesten machen, gar Schnörkel in die Luft zeichnen? Um Himmels willen! Und niemanden, wirklich niemanden zu lang ansehen - schon gar nicht Jungs!
"Es ist zwecklos. Meine Beine stelzen über den Teppich, als wären sie in meinem Becken nur eingehakt. Meine Kniegelenke sind steif. Sobald ich es mit beweglicheren Knien versuche, gehe ich so breitbeinig, dass es aussieht, als hätte ich mir in die Hose gemacht." Auszug aus "Das Summen unter der Haut"
Die Angst vor der sozialen Verurteilung
31 Tage aus dem Leben eines schwulen Teenagers erzählt dieser fein durchkomponierte Roman. Immer wieder taucht das Freibad auf: der einzige Ort, wo Erdnussflips schmecken, wo sich alle nackig machen müssen, wo die Blicke verstohlen über Körper wandern. Lohse liefert den Soundtrack, das schwarz-weiße Fernsehprogramm und die Markennamen von der Eissorte bis zum Duschbad. Und das alles in Dialogen, die an den Humor und die Schnoddrigkeit von Wolfgang Herrndorfs "Tschick" erinnern. Als Julle schließlich ausspricht, dass er schwul ist, da wird er gerade von Jörg verkloppt:
"Im Park wird mir bewusst, was ich getan habe. Ich habe mich verraten, bald weiß es die ganze Welt. Jörg wird es weitererzählen. In der Klasse werden es jetzt alle wissen, dann in der Parallelklasse, dann alle in der Schule. Meine Eltern werden es erfahren, der Hockeyclub meines Vaters, meine Oma in Koblenz. In den abwaschbaren Fluren der Hochhausgebirge wird man es sich zurufen. Es wird in meinen Akten stehen, Jörgs Vater ist Polizist. Dem dürren Bademeister wird es vielleicht egal sein, aber der Regierung nicht. Sie wird von nun an ein Auge auf mich haben. Axel wird es wissen." Auszug aus "Das Summen der Haut"
Wie wäre eine Welt ohne Coming-Outs?
Bei allen realen Beschreibungen: Der Roman "Das Summen unter der Haut" ist auch ein Parallelentwurf zu den 70er-Jahren. Ein Märchen: Schön, wenn es so gewesen wäre. Denn eigentlich sind alle entspannt, ahnen sein Schwulsein, nur Julle trägt diesen Katalog der Angst mit sich. "Ich habe mir ein bisschen vorgestellt, wie wäre denn eine Welt, wo man gar kein Coming-out machen muss?", sagt Lohse. "Es gibt kein heterosexuelles Coming-out. Niemand muss sich zu einem unglaublich peinlichen Abendessen mit seinen Eltern zusammenfinden und sagen, ich bin übrigens heterosexuell."
Die Freundschaft zwischen Axel aus der Hochhaussiedlung und Julle aus dem Mittelstandseinfamilienhaus dauert 2.678.400 Sekunden oder - wie es im Roman heißt - ein ganzes Leben. Ein Sommerbuch über die erste Liebe, von der man sich nie so ganz erholt.
"Milliarden von Menschen stehen zur Auswahl, doch der Körper entscheidet sich für den, dem er zufällig in der Schule begegnet, als gäbe es auf der Welt keinen anderen, und zwar, weil Sommer ist und das Haar wie Stroh und die Stimme ein Versprechen und das Ding in der Badehose rechts. Weil der Körper verrückt geworden ist." Auszug aus "Das Summen der Haut"
Das Summen unter der Haut
- Seitenzahl:
- 176 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Suhrkamp
- Bestellnummer:
- 978-3-458-64389-0
- Preis:
- 20 €