NDR Buch des Monats Oktober: "Wohnverwandtschaften" von Isabel Bogdan
Der Hamburger Autorin gelingt mit ihrem dritten Roman ein bewegendes Drama um vier Menschen heutiger Tage. Sie macht uns Leser sehr unmittelbar zu stillen Mitbewohnern einer Zweck-WG.
Sie sind alle nicht mehr ganz jung, alle nicht ganz freiwillig Single, und sie bilden alle zusammen in Hamburg-Altona eine Zweck-WG. Vorneweg der Besitzer der Wohnung:
Jörg, 68, Witwer im Ruhestand.
Anke, 50plus, beschäftigungslose Schauspielerin.
Murat, um die 50, leidenschaftlicher Koch und Kleingärtner.
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Ein Zimmer in der WG ist frei, bleibt es aber nicht lange, denn eine neue Mitbewohnerin zieht ein:
Constanze, jenseits der 50, Zahnärztin, frisch getrennt. Leseprobe
Das übliche WG-Geplänkel
Als stünde sie dort vor der Tür erklärt Isabel Bogdan, die Erfinderin der vier WG-Bewohner, deren Wohnverwandtschaft: "Es gibt doch diesen Slogan: 'Freunde sind manchmal die bessere Familie.' Ich bin gar nicht so ein Fan des direkten Vergleichs - das eine ist besser als das andere -, das ist, glaube ich, Quatsch. Manche Familien sind toll. Für andere Leute ist es einfach ein Segen, dass man heute nicht mehr so auf die Familien angewiesen ist, sondern dass man auch Chancen hat, da rauszukommen und sich seine Freundinnen und Freunde auszusuchen und auch in solchen Wohnkonstellationen zu leben." Wie Constanze, gerade frisch getrennt und deshalb nicht ganz freiwillig hier:
Ich will nicht allein leben, ich will aber auch nicht in einer WG wohnen, […] nicht so eine Zweckvereinigung mit wildfremden Leuten, weil sich kein Schwein die Hamburger Wohnungspreise leisten kann. Leseprobe
"Wohnverwandtschaften" halt. Wobei Murat, der lebenslustige Deutschtürke aus Köln, meint, dass es ganz gut funktioniere:
Fühlt sich doch längst an wie Familie. Ich hab hier meinen kleinen Garten, der ist nur meins, aber Jörg und Anke sind mein Zuhause, meine Familie. Constanze eigentlich auch schon längst. Leseprobe
Mit der hübschen, langbeinigen Zahnärztin Constanze, verbringt Murat in seiner Gartenlaube spontan eine Liebesnacht. Anke macht das vielleicht ein bisschen eifersüchtig, vor allem aber wütend.
Es geht mich theoretisch nicht mal was an, sollen sie doch vögeln, wie sie lustig sind, ich will ja weder von ihm noch von ihr was. Aber es ist mir nicht egal, es geht einfach nicht, nicht in der WG, (…) da können die doch nicht auch noch ihr eigenes Zweierding aufmachen. Leseprobe
Machen sie nicht. Es bleibt bei dem einen Mal, bleibt beim üblichen WG-Geplänkel.
Isabel Bogdan schreibt über Demenz
Was sich ändert, ist Jörgs Zustand. Eigentlich wollte der rüstige Rentner gerade mit seinem Bulli noch einmal auf große Tour gehen, nach Georgien - da bremst ihn eine eher harmlose OP aus. Nicht weiter schlimm, denken alle, auch seine Verwirrtheit nach der Narkose nicht. Wird schon wieder! Wird’s aber nicht. Jörgs Schusseligkeit wird immer schlimmer:
Mir fallen die Wörter nicht mehr ein, wo sind meine Wörter hin, meine Schätze? Ich war doch mal ganz eloquent, eloquent war ich, so ein schönes Wort. Sie fehlen mir, die Wörter. Die schönen. Und die hässlichen. Leseprobe
Isabel Bogdan erzählt davon, wie die Demenz als eines der großen Themen unserer Tage wie selbstverständlich als Thema in ihren Roman gelangt ist: "Ich bin Mitte 50, und im kompletten Freundeskreis ist das Thema Nummer eins gerade 'alte Eltern'. Und Demenz spielt da eine große Rolle. Ich glaube, das ist ein Thema, das gerade viele Leute sehr beschäftigt. Wir werden alle immer älter und wahrscheinlich auch immer dementer."
"Wohnverwandtschaften": Ein Roman voller Dramatik
In "Wohnverwandtschaften" lässt Isabel Bogdan Anke, Murat und Constanze Jörgs fortschreitende Demenz tagtäglich hautnah erleben und erleiden. Und wir tun es auch. Denn Isabel Bogdan gelingt es, uns, fast auf den Tag genau, zwei Jahre lang sehr unmittelbar zu stillen Mitbewohnern der Zweck-WG zu machen. Wechselnd aus den Perspektiven von Constanze, Murat, Anke und Jörg vernehmen wir ein im Grunde wenig Aufsehen erregendes, eigentlich herzlich unspektakuläres, aber gerade deshalb umso bewegenderes Drama um vier Menschen heutiger Tage. Sie tragen alle ihr eigenes Päckchen und zusammen das des stillen Verschwindens eines Menschen aus dem Hier und Jetzt. In dieser Tonlage, alltagssprachlich, alltagslustig, alltagstraurig kann das wohl nur eine: Isabel Bogdan.
Wohnverwandtschaften
- Seitenzahl:
- 272 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Kiepenheuer & Witsch
- Bestellnummer:
- 978-3-462-00419-9
- Preis:
- 24 €