"Venezia 500": Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei
Wer sich diesen Kunstkatalog durchliest und sich in die abgebildeten Werke vertieft, versteht auf einmal, wie Venedigs Maler um 1500 die Kunstwelt sanft aber wirkungsvoll geprägt haben.
Viele typische Motive der Malerei gehen auf die Renaissance zurück. Im späten 15. Jahrhundert wurde die Dominanz christlicher Themen überwunden zugunsten von Porträts, von Landschaftsdarstellungen und mythologischen Motiven. Eine Ausstellung in der Alten Pinakothek München hat vor kurzem die besondere Rolle der venezianischen Malerei für diese Entwicklung untersucht. Wer die Schau nicht gesehen hat, kann sich mit dem ausgezeichneten Katalog trösten.
Giovanni Bellini: Die Landschaft als Motiv
In der "Einöde" hält sich der Heilige Franziskus auf, gemalt um 1480 vom venezianischen Künstler Giovanni Bellini. Doch was für eine Einöde ist das?
Im Hintergrund einer grauen Felslandschaft erstrecken sich wuchtige Stadtmauern, Türme und eine Burg unter blauem Himmel. Ein Esel auf einem Feld, ein Kranich am Steilufer sind zu entdecken, unten am Bachlauf hockt ein Eisvogel, zwischen Steinen lugt verschmitzt ein Kaninchen hervor. Ein Pflanzenkenner bemerkt sofort die Königskerze, daneben Lorbeer, Wein, Iris, Astern - je länger man schaut, den Blick über das Gemälde wandern und herumschweifen lässt, desto mehr Details fallen plötzlich ins Auge! Das die Armut des Heiligen feiernde Bild feiert zugleich die Fülle der Natur, und es feiert die Kunst eines Malers, der seinem Publikum eine wahre Augenweide bietet.
"Das Ölgemälde mit dem heiligen Franziskus in der Einöde hat eine bewundernswert vollendete und ausgesuchte umgebende Landschaft", berichtet der venezianische Adlige Marcantonio Michiel um 1530 - und nutzt dabei die Vokabel "paese", Landschaft. Zuvor hatten zeitgenössische Kunstkenner eher von "lontani" gesprochen, dem "weit Entfernten" und damit das gemeint, was neben dem Hauptmotiv auch noch auf einem Gemälde zu sehen war: irgendwelche Natur im Hintergrund. In Bellinis Malerei findet die Landschaft als Motiv auf einmal besondere Beachtung.
Prägende Geste: Porträts im Schulterblick
Mit solchen Hinweisen - und Gemälden eines Giovanni Bellini, eines Sebastiano del Piombo, Palma il Vecchio und besonders Giorgione - gelingt es dem Katalog, auch Laien die unbekannte Renaissancemalerei zu erschließen. Venedigs Künstler vor und nach 1500 malten nicht mehr nur Madonnen mit und ohne Jesuskind oder Engel, die einer Jungfrau ihre baldige Schwangerschaft verkündigen. Auf einmal wurden arkadische Paradieslandschaften mit ruhenden und musizierenden Hirten modern; Sehnsuchtsorte für geplagte Renaissance-Großstädter. Und: zahllose Porträts ebendieser Städter, gern mit bewegter Geste - am besten (und für Jahrhunderte prägend) im Schulterblick.
Ein Paradebeispiel ist Giorgiones kraftvoller junger Mann mit Pelzumhang: den soeben ausgezogenen Handschuh hält er in der Rechten; während er sich schon abwendet, wirft er nochmal einen herrischen Blick zurück. Ein Hollywood-Schauspieler könnte nicht cooler aussehen.
Die gleiche Geste beim kreuztragenden Christus in rotem Gewand - auch hier der Blick über die rechte Schulter, auch hier die zwei Falten am Hals. Doch dieser Blick des zum Kreuzestod Verurteilten ist sanft, demutsvoll, beinahe fragend. Gleicher Schulterblick, gleicher venezianischer Malstil, ganz anderer Ausdruck.
Maler und Motive werden neu identifiziert
Der Katalog bietet zudem eine bahnbrechende Erkenntnis über ein bislang wenig beachtetes Doppelporträt: Der respektable Lehrer, der seinem jungen Astronomie-Schüler gerade noch etwas erklärt hat und uns Betrachter nun über die linke Schulter anblickt, ist mit großer Sicherheit von Giorgione gemalt! Ausführliche röntgentechnische Untersuchungen, aber auch Vergleiche mit ähnlichen Abbildungen und intensive Quellenstudien machen diese Hypothese äußerst plausibel, erklärt Kunsthistorikerin Johanna Pawis: "Das Alter der Dargestellten, die biografische Situation mit einer Datierung um 1510 - es passt einfach alles zusammen!"
Hier haben wir einen Kunstkatalog, der einige neue Zuschreibungen ermöglicht (tatsächlich werden weitere Maler und Motive neu identifiziert), der Erhellendes über berühmte Gemälde zu sagen weiß (zum Beispiel über Giorgiones "La tempesta") wie auch über wenig bekannte Stiche und Zeichnungen. Wer ihn durchliest und sich in die abgebildeten Werke vertieft, versteht auf einmal, wie Venedigs Maler um 1500 die Kunstwelt sanft aber wirkungsvoll geprägt haben.
Venezia 500. Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei
- Seitenzahl:
- 256 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Verlag:
- Hirmer
- Bestellnummer:
- 978-3-7774-4174-0
- Preis:
- 39,90 €