Teresa Reichl: "Der Literaturkanon muss diverser werden"
Sich in Perspektiven reinfühlen, die nicht die eigenen sind - das ist, was Literatur kann. Und dafür muss der Literaturkanon weiblicher werden. Braucht es dafür eine Frauenquote? Teresa Reichl plädiert für insgesamt mehr Vielfalt.
Die Germanistin Teresa Reichl ist vielfach ausgezeichnete Poetry Slammerin, auf Youtube fasst sie regelmäßig große Klassiker der Literatur in einminütigen, sehr unterhaltsamen Videos zusammen, wird auf allen Social-Media-Kanälen von Tausenden Menschen gefeiert. Ihr Ziel ist es, jungen Menschen das Lesen und Literatur wieder näher zu bringen. "Muss ich das gelesen haben? Was in unseren Bücherregalen und auf Literaturlisten steht - und wie wir das jetzt ändern" lautet der Titel des Buches von Teresa Reichl, in dem sie u. a. dafür plädiert, dass der Literaturkanon weiblicher werden muss.
Frau Reichl, eine These Ihres Buches ist, dass das Patriarchat entscheidet, was als "wichtige" Literatur gilt. Und das unseren Literaturkanon sehr verstaubt wirken lässt. Was muss sich denn daran ändern? Wie soll er sich ändern?
Teresa Reichl: Ich glaube, am einfachsten zu verstehen ist es, wenn man bedenkt, wie wir Literatur unterteilen: in gut und nicht gut - und wie wir Sprache wahrnehmen. All das ist geprägt - und zwar genauso, wie die Gesellschaft auch geprägt ist. Das heißt, wenn wir finden, - und das können vor allem wir Deutschen sehr gut - dass Sprache sehr kompliziert sein muss, damit sie Kunst sein kann, dann finden wir das nicht, weil das Werk dann tatsächlich besser ist, sondern weil wir gern kompliziert sind. Das lässt sich auf alle möglichen verschiedenen gesellschaftlichen Themen übertragen: Frauenthemen, migrantische Themen, jüdische Themen - die werden dann einfach ausgespart, obwohl wir davon genug hätten zum Lesen.
Und auch immer genug hatten! Haben sie weibliche Autorinnen im Sinn, wenn Sie an Klassiker denken?
Reichl: Es gibt natürlich Klassikerinnen, die jetzt schon zumindest ein bisschen im Kanon drin sind. Wir lesen Karoline von Günderrode. Meine Lieblings-Klassikautorin ist Luise Gottsched. Die fand ich ganz, ganz toll - von ihr bin ich ein richtiges Fan-Girl. Und da ist zumindest die Forschung schon so weit, dass wir wissen: Es gibt diese Werke! Sie werden immer noch weniger verlegt, weniger gelesen und weniger gelehrt, auch an Unis. Aber wir wissen zumindest, dass es sie gibt. Ganz anders sieht es bei queerer Literatur aus, ebenso bei Literatur von behinderten Autor*innen - da ist die Forschung noch deutlich weiter hinten oder wieder zurückgeworfen worden in der NS-Zeit.
Das heißt, Sie wünschen sich ganz allgemein auch einen viel diverseren Kanon?
Reichl: Ja, mir geht es auf gar keinen Fall allein um die Frauen, sondern mir geht es um alle. Denn genauso wie die Gesellschaft einfach alle Leute sind, sollte auch die Literatur alle sein. Und das heißt nicht, dass in jedem Werk jede Person, die es irgendwie gibt, mal vorkommen muss, sondern mein Gedanke war nur, dass die Summe aller Bücher, die wir lesen, auch die Summe der Gesellschaft darstellen soll - auch in der Schule. Und das ist überhaupt nicht der Fall - bisher.
Wie kann sich das denn ändern?
Reichl: Es gibt verschiedene Schuldige, die sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe schieben wollen. In den unterschiedlichen Bundesländer ist es zum Beispiel sehr unterschiedlich geregelt: Es gibt Bundesländer, da sind bestimmte Werke fix oder bestimmte Autor*innen fix. Daneben gibt es Bundesländer, da ist es sehr frei. Dann sagen die Leute vom Ministerium, wir müssen uns nach den Verlagen richten, um zu schauen, was überhaupt verfügbar ist. Und dann gibt es die Verlage, die sagen, aber wir können nichts rausbringen, was dann niemand liest. Und ich glaube, was da helfen könnte, sind einzelne übermotivierte Lehrkräfte, die sich zusammentun im Kollegium und sagen, dann lesen wir mit der ganzen elften Klasse "Panthea" von Luise Gottsched, beispielsweise, und nicht nur "Maria Stuart" als klassisches Drama. Was auch helfen kann, sind einzelne übermotivierte Schüler und Schülerinnen, die vielleicht dann mal sagen, wir wollen nicht "Effi Briest" lesen, sondern "Aus guter Familie" von Gabriele Reuter, denn das ist das gleiche Thema - aber da ist die Autorin eine Frau. Und ich glaube, so kann man ein bisschen von unten revolutionieren.
Die sogenannten alten weißen Männer haben ja lange die öffentliche Debatte auch geprägt, haben sich eingemischt. Große Literaten haben sich auch politisch geäußert. Wie ist es denn heute? Sind die Autorinnen vielleicht einfach auch weniger sichtbar? Wir haben mit Sandra Richter, der Leiterin des Literaturarchivs Marbach, gesprochen. Und sie hat gesagt: "Frauen werden oft quasi übersehen, weil sie weniger in den großen Fernsehsendungen auftauchen oder sich an Debatten beteiligen." Wie könnte sich das ändern?
Reichl: Das ist so kompliziert, weil es alles ineinander übergeht und alles damit zusammenhängt, dass immer noch die Chefetagen voller weißer Männer sind. Und die Leute, die die Leute einladen in die Talkshows, oder die Leute, die die Kritiken schreiben, sind öfter Männer. Es hat eine Studie gegeben, die gezeigt hat, dass je größer der Verlag ist, je mehr Prestige und Ansehen der Verlag hat in Deutschland, desto höher die Männeranzahl ist, wenn man schaut, wer verlegt wird. Und ich glaube, es bräuchte so eine Art Frauenquote zumindest als Übergang, als Anfang.
In den Siebzigern hat Marcel Reich-Ranicki noch gesagt, dass es niemanden interessiere, was die Frau denkt, während sie menstruiert, und dass ein Roman, in dem es ums Menstruieren geht, ein Verbrechen sei und keine Literatur. Da ist es nicht verwunderlich, dass das bis heute so eine Nische ist. Es gibt ja keine Männerliteratur. Es gibt keine Literatur, die nur für Männer ist. Und dann liest man in der zehnten Klasse Thomas Manns "Der Tod in Venedig", wo es um einen Mitte-50-Jährigen geht, der richtig doll Midlife Crisis hat und sich in einen 14-Jährigen verliebt am Strand. Aber sobald woanders einmal das Wort Menstruation vorkommt, ist es eklig, und das darf man dann nicht bzw. das ist es, was Männer nicht zu interessieren braucht. Und so ist es mit allem: Geschichten von People of Color oder von schwarzen Personen zum Beispiel - da steckt immer noch drin, dass das für viele weiße Leute nicht interessant sei. Dabei ist es ausgerechnet für weiße Leute interessant, um sich mal reinzufühlen, wie das ist. Denn das ist es ja, was Literatur kann: sich in Perspektiven reinzufühlen, die nicht die eigenen sind. Zudem ist es doch total langweilig, wenn man immer die gleiche Perspektive liest.
Das Interview führte Julia Westlake für NDR Kultur.