"Steine & Erden": Kluger, sensibler Gedichtband von Jan Wagner
Jan Wagner zählt zu den wenigen wirklich erfolgreichen Lyrikern der Gegenwart: Er wurde nicht nur mit den wichtigsten Literaturpreisen geehrt, seine Poesie steht auch auf den Bestsellerlisten. Sein neuer Gedichtband heißt "Steine & Erden".
Karotten beschreibt er so: "unterirdische raketen (…) bewegen sich immerzu fort von der sonne, dem erdmittelpunkt entgegen", den Apfel "mit dem äquator von süße" und Flamingos als die, die "mit jedem hals ein fragezeichen an alles fügen". Wenn er von "thermoskannentagen" redet, wissen wir, welche Witterung er meint. Ebenso kennen wir "den geheimen duft von erde und asphalt", den der Regen im Gedicht enthüllt.
Klare, zugängliche, anmutige Sprache
In "Steine & Erden" findet Jan Wagner neue Bilder für Altbekanntes. Seine Sprache ist wie immer: klar, zugänglich, anmutig. Diese Lyrik weckt keinerlei Berührungsängste, hat keine Einstiegsschwelle. Sofort sind wir drin in diesem poetischen Kosmos. Tiere, Landschaften, kleine und große Alltagsgegenstände - alles bekommt einen wundersamen Glanz, eine Geschichte.
"streichholz
eines klappert noch
in der schachtel, gehütet
wie ein erster zahn
dann angerissen
in dichtestem dunkel: ah!
hier bin ich. war ich."
Textprobe aus "Steine & Erden"
Belangloses als Ausgangspunkt für große Themen
Jan Wagner bleibt sich treu. In seinen Gedichten bildet das vermeintlich Belanglose den Ausgangspunkt für große Themen. Das Streichholz könnte für Vergänglichkeit stehen, für Einsamkeit, für den letzten Hoffnungsschimmer, vielleicht auch für unsere Unfähigkeit loszulassen.
Mal mehr mal weniger offensichtlich steckt Gesellschaftskritik in seiner Lyrik: Der Mensch macht sich schuldig, indem er zum Beispiel Tiere schlachtet, Massentierhaltung unterstützt, Müllberge stapelt, luxussüchtig Muscheln und Trüffel in sich hinein frisst, sich mit ausländischen Nachbarn schwertut.
Ereignisse der letzten Jahre fließen ein
"Das Schöne an Gedichten ist, dass sie keine Leitartikel sind. Ich habe keinerlei Verpflichtung einen Kommentar abzuliefern, was aber nicht heißt, dass ich ein unpolitischer Mensch wäre", sagt Wagner. "Es ist denkbar, über ein paar alte Schuhe zu schreiben und trotzdem eine Menschheitstragödie darin anklingen zu lassen. Die Ereignisse der letzten Jahre, die niemanden unberührt lassen, werden auch in diesem Buch gespiegelt. Aber eben nicht direkt."
Unsere mentale und soziale Verkümmerung während der Corona-Pandemie verhandelt Jan Wagner zum Beispiel im Gedicht "das reisen in zeiten der pest". "passierscheine, atteste, dokumente" geben den Ton an. Oh ja - da war doch was! "wähle zum schlafen das einsamste haus".
Das Ich im Gedicht als schöne Maske
Seine Poesie hat etwas Geschmeidiges, Fließendes. Das passt zum Verfasser: Jan Wagner haut nicht drauf. Er überlässt der Sprache die Bühne und nimmt sich selbst zurück. Gern führt er uns aber aufs Glatteis. Er lässt uns glauben, das lyrische Ich teilt in diesen Gedichten persönliche Erinnerungen: Reisen mit Eltern, die verkrampfte Tanzstunde Jugendlicher, der schweigsame Onkel, der dem Neffen das Angeln beibringt.
"Für mich ist das Ich im Gedicht eine schöne Maske, die man aufsetzen und absetzen kann. Ich mag es, bei Gedichten, die vermeintlich autobiografisch sind, Dinge zu erfinden. Es ist doch herrlich, wenn man seine eigene Familie erweitern kann und plötzlich Tanten kennenlernt, die es gar nicht gibt. Diesen Onkel hat es nicht gegeben. Es könnte ihn aber gegeben haben. Und er ist ein Onkel, der mich zumindest interessiert."
Jedes Wort sitzt
Lyrik ist harte Arbeit. Das sagt der Autor, der zu seiner eigenen Überraschung inzwischen vom Schreiben, Übersetzen und Herausgeben leben kann. "Es ist eben nicht so, dass der Dichter im Mondschein reitend sein Sonett empfängt." Jan Wagner frickelt an Versen, macht sich Notizen und streicht viel. Der Lohn: Jedes Wort sitzt.
"er vergaß die wörter laken
und schneefall, milch und meerrettich und kren,
bewegte sich als blackout durch die straßen,
als wirbel, biblisch, düster, als ein krähen-
tornado"
Textprobe aus "Steine & Erden"
Ein kluger, sensibler Gedichtband ist entstanden. Fünf Jahre hat Jan Wagner daran gearbeitet. Ob er mit der Zeit kritischer mit sich geworden ist? "Langsamer auf jeden Fall. Und ja, wahrscheinlich auch kritischer."
Steine & Erden
- Seitenzahl:
- 112 Seiten
- Genre:
- Lyrik
- Verlag:
- Verlag Hanser Berlin
- Veröffentlichungsdatum:
- 23. Oktober 2023
- Bestellnummer:
- 978-3-446-27730-4
- Preis:
- 22 €