Siri Hustvedt über den Zwang, eine "gute Mutter" zu sein
In ihrem neuen Essayband "Mütter, Väter, Täter" kritisiert die US-amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt das "idealisierte Bild" der Mutter. Mit NDR Kultur spricht sie darüber, was es bedeutet, eine gute Mutter zu sein.
Einen Auszug des Gesprächs lesen Sie hier. Das vollständige 30-minütige Gespräch können Sie in der ARD Audiothek oder als Podcast hören.
Frau Hustvedt, wenn wir uns die Karten und die Bilder anschauen, die es zum Muttertag gibt, dann sind das sehr idealisierte Bilder von Müttern. Sie haben in einem Essay geschrieben, der Muttertag maskiere Mutterschaft "mit Schleifchen und Rosenblüten", als eine Kritik an dem idealisierten Bild der Mutter. Was meinen Sie damit?
Siri Hustvedt: Damit meine ich, dass diese Sentimentalität etwas überdeckt, nämlich die verständliche Angst von uns Menschen, dass jede und jeder von uns von einer anderen Person geboren wurde und die ersten Jahre des Lebens in vollständiger Abhängigkeit von anderen verbracht hat. Die ersten Jahre unseres Lebens können wir Menschen nicht ohne Hilfe überstehen - und zwar in den meisten Fällen die Hilfe von Müttern, die uns ernähren und sich um uns kümmern. Wir sind schließlich keine Echsen, die vollständig lebensfähig aus einem Ei klettern. So funktioniert das menschliche Leben nicht.
Obwohl sich die Menschheit das früher gern so vorgestellt hat. Die alten Griechen etwa beschreiben, dass Athene vollständig lebensfähig und sogar in voller Rüstung aus dem Kopf von Zeus herausklettert - fast genauso wie eine Echse.
Hustvedt: Genau. Die Kopfgeburt ist eine sehr alte griechische Fantasie. In einem meiner Aufsätze über Misogynie schreibe ich darüber, dass es bei den Griechen dagegen überhaupt keine Bilder von einer biologischen Geburt gibt. Die einzigen Geburten, die wir sehen oder von denen wir lesen, sind unnatürliche Geburten, wie eben Götter, die aus Köpfen entspringen. Ich glaube, diese Wunschvorstellung zieht sich durch die westliche Philosophie und ihre Geschichte. Diese Angst vor der Abhängigkeit, die Angst vor Frauen allgemein hat dazu geführt, dass die Realität der Geburt und die Bedeutung der ersten Jahre der Abhängigkeit vom Körper eines anderen Menschen unterdrückt wurden. Diese Diskussion muss sich öffnen. Wir müssen darüber sprechen, was Mutterschaft wirklich bedeutet. […] Es gibt in der Kunst unserer westlichen Zivilisation - oder zumindest in der Kunst, die sich erhalten hat - nicht eine einzige Abbildung einer Geburt oder einer Schwangerschaft. Erst im Jahr 2011 fand man zwei Scherben einer etruskischen Vase, auf der eine Frau während des Gebärens zu sehen war. Aber es ist wichtig zu erwähnen, dass unser philosophisches Erbe von den Griechen abstammt, nicht von den Etruskern. In anderen Kulturen gab es viele Abbildungen von Schwangerschaft und Geburt.
Zum Beispiel die Venus von Willendorf, die hier in Deutschland gefunden wurde. Aber beeinflusst dieses philosophische Erbe noch immer unsere Gesellschaft und unsere Vorstellung von Mutterschaft?
Hustvedt: Ja, ich glaube, das tut es. Und diese Sentimentalität, die den Muttertag umgibt, hat damit zu tun. Das andere Problem, das ich sehe, ist die Vorstellung von der "guten Mutter", die der "schlechten Mutter", oder der "Rabenmutter" entgegengestellt ist. Diese Vorstellung einer schlechten Mutter ist so furchtbar, dass wir sie abtrennen müssen von ihrem Gegenbild. Und es gibt nur weniges in unserer Gesellschaft, was für so viel Empörung sorgt wie eine schlechte Mutter. Niemand möchte sich diesem Vorwurf aussetzen. Es ist also eine Art soziale Kontrolle des Verhaltens von Frauen und diese Vorstellung sitzt sehr tief, denn die Aufgabe, sich um ein kleines Kind zu kümmern, ist so unglaublich wichtig für uns alle. Aber wir sehen nicht den bestrafenden Aspekt, den dieser Zwang, eine "gute Mutter" zu sein, mit sich bringt. Und die Art und Weise, wie wir diese Wunschvorstellung einer Mutter mit Karten und Blumen umgeben, scheint mir fast so, als ob unsere Gesellschaft diese Angst vor der "schlechten Mutter" verstecken möchte.
Rachel Cusk hat in ihrem Buch "Über das Mutterwerden" von diesem Zwang geschrieben und auch von dem Hass, der ihr nach der Veröffentlichung entgegenschlug. In Ihrem Buch erzählen Sie ebenfalls von einer Situation, in der Sie diesen Hass auf die "schlechte Mutter" gefühlt haben.
Hustvedt: Ja, und ich habe bisher niemandem davon erzählt, weil ich mich so geschämt habe. Ich war damals mit meiner Tochter am Flughafen und wir befanden uns auf einer Rolltreppe nach unten. Sie saß in ihrem Buggy. Und ich schaute nach unten und sah, dass sie nicht angeschnallt war. Und plötzlich kippte sie nach vorn. Ich packte sie, zog sie zurück und habe sie so gerettet. Aber während all das passierte, stand vor mir ein Geschäftsmann und beobachtete uns, schaute mich an. Sein Gesichtsausdruck war so voll Abscheu, dass meine Scham mich vernichtet hat. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie schrecklich ich mich fühlte. Aber Erinnerung ist ein interessantes Phänomen. Denn als ich nun erneut darüber nachdachte, habe ich realisiert, wie sehr ich mich selbst bestraft habe mit dieser Vorstellung, ich wäre eine schlechte Mutter. Natürlich wünsche ich mir, dass meine Tochter angeschnallt gewesen wäre, und wäre ihr etwas passiert, würde ich mir für immer Vorwürfe machen, darum geht es nicht. Es war der Ausdruck in den Augen dieses Mannes, der mir zeigte, wie tief diese Vorstellungen davon, wie eine gute Mutter zu sein hat, in unserer Gesellschaft eingeschrieben ist. Ich konnte mir beinahe vorstellen, wie er dachte: Der arme Ehemann! Und wäre es statt mir mein Ehemann gewesen, dem dies auf der Rolltreppe passiert wäre, dann hätte er vermutlich gedacht: Oh mein Gott, der Arme, wo ist nur seine Frau? […] Die moralischen Ansprüche an Männer und Frauen sind unterschiedlich. Und Frauen leiden darunter.
Sie schreiben in Ihrem Buch auch sehr persönlich über das Verhältnis zu Ihrer eigenen Mutter, die 2019 verstorben ist. Man kann in Ihrem Text diese besondere Verbindung spüren. Wie würden Sie diese beschreiben?
Hustvedt: Ich kann mich nicht erinnern, meine Mutter nicht geliebt zu haben. Von meiner frühesten Kindheit an bis zum Tag ihres Todes hatten wir eine besondere Verbindung, die sich mit der Zeit verändert hat. Ich bin nicht sicher, ob sie intensiver wurde: Sie wurde anders. Wir hatten nach dem Tod meines Vaters noch zehn gemeinsame Jahre. Meine Mutter war eine sehr unabhängige Person, und unsere Freundschaft wurde die von zwei reifen Frauen. Die Themen unserer Unterhaltungen änderten sich, unsere Intimität nahm eine andere Form an, eine andere Farbe. Es geht also nicht so sehr um die Stärke dieser Verbindung - die gab es immer. Es ist für mich ein unglaublich großes Geschenk, dass ich so eine unkomplizierte Beziehung zu meiner Mutter hatte. Viele Menschen haben das nicht. Wenn ich also von ihr schreibe, dann schreibe ich nicht über Mutterschaft als eine Art universelle Wahrheit. Einige Mütter haben keine enge Verbindung zu ihren Kindern, und auch das ist in Ordnung. Aber ich schreibe hier über meine eigene Mutter. Wie sehr ich sie geliebt habe und wie sehr ich sie noch immer vermisse.
Das Interview führte Jan Ehlert. Das vollständige 30-minütige Gespräch können Sie in der ARD Audiothek oder als Podcast hören - und am 14. Mai ab 13 Uhr auf NDR Kultur.