Simon Urban: "Wie alles begann und wer dabei umkam"
Zu Beginn von Simon Urbans neuem Buch fällt das Stichwort Schelmenroman. Der Ich-Erzähler bedauert, so etwas nicht schreiben zu können. Aber der Autor kann. Er kann es ganz fantastisch.
Vielleicht erinnern Sie sich an diesen Werbespot. Ein alter Herr ist enttäuscht, weil seine Kinder den Weihnachtsbesuch absagen. Wieder mal. Diesmal schickt er ihnen seine eigene Todesanzeige. Als sie traurig zur Beerdigung anreisen, taucht er plötzlich vergnügt auf. Anders hätte er sie ja nicht zusammenbekommen. Mit diesem Spot hat vor Jahren ein Supermarkt geworben. Ausgedacht hat ihn sich der Schriftsteller Simon Urban. Für seinen neuen Roman hat er bereits den Hamburger Buchpreis bekommen.
Enkel verurteilt die Großmutter
Mit dreizehn stellt der Junge seine Großmutter vor Gericht. Der Vorwurf: Sie beleidige und schikaniere seine Mutter. Ständig. Wochenlang hat er Onkel, Cousinen, sogar die Ärztin nach der Großmutter gefragt und alles heimlich mit einem Diktiergerät aufgenommen. Auch in ihrem Wohnzimmer hat er das Band als Beweismittel laufen lassen, um später, allein zu Hause, eine Verhandlung zu inszenieren.
Ich sprach die Großmutter in sämtlichen Anklagepunkten schuldig. Aufgrund der eklatanten Zahl von Wiederholungstaten, des Fehlens jedes nachvollziehbaren Motivs sowie jeder Form der Einsicht oder Reue stellte ich außerdem die besondere Schwere der Schuld fest - und verurteilte die Großmutter zum Tode. Eine Berufung war nicht möglich. Leseprobe
Zum Jura-Studium nach Freiburg
Ein extremes Hobby, das diesen jugendlichen Helden beschäftigt. Sein Nachname, Hartmann, fällt auf über 500 Seiten nur ein einziges Mal. In der Schule ist er ein Außenseiter, entstellt durch Akne und gequält von unerfülltem Verlangen nach Sex. Das Jura-Studium in Freiburg fällt ihm leicht, und er wird bald als Tutor engagiert.
Zum Thema Vertragsrecht verwickelt er seine Erstsemester in eine Übung. Jeder soll ein persönliches Geheimnis offenbaren, alle verpflichten sich schriftlich zu Verschwiegenheit. Hartmann, der Ich-Erzähler, berauscht sich an intimsten Bekenntnissen. Er findet eine Studentin, mit der er alle paar Tage schlafen kann. Mehr Nähe braucht er nicht.
Ich sah in dieser Tatsache vor allem einen nicht zu unterschätzenden Vorteil, der mir zu einer konstanten Unabhängigkeit verhalf und gleichzeitig eine bestimmte Sorte von Schwäche, Ablenkung, Inkonsequenz und Verweichlichung ersparte. Leseprobe
Während man sich beim Lesen von diesem Hartmann distanziert, schlägt sein Erfinder einen Haken. Simon Urban bleibt immer an der Seite seines Helden, und das Verblüffende, er führt auch uns immer wieder zu ihm zurück.
Eigenes Rechtssystem soll Rache legitimieren
An die Uni wird eine neue Professorin berufen. Redegewandt, medial erprobt, im figurbetonten Kostüm unterrichtet sie ihre juristische Grundfrage: Warum hat ein Täter ein Verbrechen begangen.
Hartmann geht alles an dieser Frau gegen den Strich. Ihn interessiert etwas anderes. Wie kann das Strafrecht den Opfern Genugtuung verschaffen? Kann Rache eine legitime Kategorie sein? Er entwirft ein neues Rechtssystem. Während man sich noch fragt, ob er sich jetzt in die Ecke der Grundgesetz-Verächter manövriert, spricht Hartmann schon abfällig über die sogenannten Reichsbürger. Wieder so ein Winkelzug des Autors Simon Urban.
Wegen herausragender Studienergebnisse wird Hartmann ein Stipendium zugesprochen. Er bedankt sich mit einem dermaßen unverschämten Vortrag, er beleidigt die Professorin so, dass er nur noch die Universität verlassen kann. Er will ans andere Ende der Welt, um seine Gesetzesentwürfe in Papua-Neuguinea einem Praxistest zu unterziehen. Sein Rechtssystem soll global funktionieren.
Drama, Sex und Größenwahn
Simon Urban schafft es, dass sein Held in aller Maßlosigkeit und Arroganz beeindruckt - fasziniert folgt man ihm zur nächsten Etappe in Singapur. Er lernt eine junge Frau kennen, die von einem Hochstapler wissentlich mit Aids angesteckt wurde. Wie schon als Jugendlicher inszeniert Hartmann einen Prozess, um die Frau aus ihrer Opferrolle zu befreien. Nur diesmal reicht ihm das Todesurteil nicht. Es muss auch vollstreckt werden.
Wer googeln mag, was einen Schelmenroman ausmacht, findet die Zutaten hier virtuos gemischt: dramatische Episoden, sexuelle Details, Größenwahn. Das Buch ist keine Lektüre nach einem anstrengenden Tag. Zu viel würde man bei unkonzentriertem Lesen verpassen. Für Ausgeschlafene ist es ein Hochgenuss.
Wie alles begann und wer dabei umkam
- Seitenzahl:
- 544 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Kiepenheuer & Witsch
- Bestellnummer:
- ISBN 978-3-462-05500-9
- Preis:
- 24,00 €