Doppelseite aus dem Bildband © Taschen Verlag Foto: Sebastião Salgado / Amazonas images

Die Normalität des Unmenschlichen

Stand: 08.02.2024 08:00 Uhr

Die Sozialdokumentation ist das Spezialgebiet des brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado. Die Schwarz-Weiß-Fotografie ist sein Mittel. In fast allen Ländern dieser Welt hat Salgado mit seiner Leica Menschen und ihre Arbeit fotografiert. "Bildschön" ist das Buch "Exodus" des Fotografen Sebastião Salgado nicht unbedingt - bildgewaltig ist das bessere Wort.

von Lenore Lötsch

Bildgewaltig und verstörend zeigt es das Elend der Welt auf 431 Seiten. Sebastião Salgado hat sechs Jahre lang in 40 Ländern Flüchtende porträtiert. Im Jahr 2000 kam sein Bildband heraus, nun ist er aus aktuellem Anlass wieder aufgelegt worden.

Vergessene Menschen

Das vier Kilogramm schwere Ungetüm ist wie ein Beschwerer, nicht für Briefe, sondern fürs Gewissen. Das Foto des Jungen mit den zerzausten blonden Haaren: Er reibt sich mit der kleinen Faust das Auge, als wäre er einfach nur gerade vom Mittagsschlaf aufgewacht. Doch kein Bett, nirgends, er steht ganz allein auf einem Trampelpfad, der das umgegrabene Feld mit den tausenden kleinen Hügeln und Furchen zerteilt, wie ein Steg, der mitten hinein führt in die Trostlosigkeit. 120 Menschen warteten damals, 1994 im Lager Ivankovo in Ostkroatien monatelang auf ihre Weiterfahrt. Man hatte die Flüchtlinge - bosnische Muslime, aber auch Serben und Kroaten - einfach vergessen.

Salgados Fotos jedoch kann man nicht vergessen. Sie sind wie eine Chronik von Vertreibung, Elend und einem der stärksten menschlichen Instinkte, der Menschen dazu bringt, alles Vertraute hinter sich zu lassen. In mitunter grobkörnigen Schwarz-Weiß-Fotos - er fotografiert nicht digital, sondern auf Film- dokumentiert Salgado, wie bereits vor 20 Jahren die Menschheit in Bewegung geraten ist - schon damals auf maroden Schiffen, festgezurrt in Güterwaggons oder Lastwagen. In Asien, Lateinamerika und Afrika. Doch sie kamen vor zwei Jahrzehnten nur selten in Europa an. So fiel es leichter, ihre Bilder zu vergessen oder sie als Protagonisten einer Nachrichtensendung irgendwo auf der Welt abzuspeichern.

Chronik der Vertreibung

Salgado aber baut ihnen mit jedem Bild eine Bühne, und besonders seine Panoramafotos ästhetisieren unmenschliche Lebensumstände: Da wirkt ein Flüchtlingslager in Ruanda auf den ersten Blick wie ein römisches Amphitheater. Er nähert sich langsam, wartet, bis Vertrauen in den Gesichtern zu sehen ist, bis die Kauernden, Eingepferchten, Wartenden sich unterhalten mit ihm, mit der Kamera, für diesen Augenblick. Im Vorwort schreibt der Fotograf, wie sehr diese Bilddokumentationen der Flucht überall auf der Welt ihn verändert haben:

"Schon früher hatte ich unter schwierigen Bedingungen gearbeitet. Meine politischen Überzeugungen, dachte ich, wüssten für viele Probleme einen Weg, und die Menschheit entwickele sich im Großen und Ganzen zum Guten. Auf das, was mich erwartete, war ich nicht vorbereitet. Was ich über das Wesen der Menschen und über die Welt, in der wir leben, gelernt habe, hat mein Bild von der Zukunft verdüstert." Leseprobe

Erschütternde Wirklichkeit

Mitunter ist es notwendig, das Böse auch zu sehen, um die Wirklichkeit in ihrem schockierenden Ausmaß zu fühlen und nicht nur zu begreifen. Man wünscht sich, dass es Holzstämme sind, die da in den Rusumo-Wasserfällen an der Grenze zwischen Ruanda und Tansania zwischen dem Unrat treiben und weiß doch längst, dass die Leichen damals, 1994, von den Mördern in den Fluss geworfen wurden. Oder der Mann, der triumphierend mit einem dicken Bündel Dollarscheine und einem Taschenrechner inmitten eines Flüchtlingslagers in Zaire steht. Er ist bereit für sein Geschäft: ein Geldwechsler. "Es wird sich auch hier etwas verdienen lassen, glaub mir nur", erzählen seine Augen. Salgado schreibt im Vorwort:

"Allzuoft bin ich dem Überlebenstrieb, diesem stärksten aller menschlichen Instinkte, in der Maske von Hass, Gewalttätigkeit und Habgier begegnet. Angesichts der Massaker, die ich in Afrika und Lateinamerika, der ethnischen Säuberungen, die ich in Europa gesehen habe, frage ich mich, ob es den Menschen je gelingen wird, ihre dunkelsten Instinkte zu beherrschen." Leseprobe

Sebastião Salgado weiß keine Antwort, aber sein Bildband "Exodus" ist ein allgemeingültiger Fragenkatalog - heute so aktuell und berührend wie vor fast 25 Jahren.

Exodus

von Sebastião Salgado
Seitenzahl:
432 Seiten
Genre:
Bildband
Zusatzinfo:
Neuausgabe von Sebastião Salgados Klassiker zum Thema Exil, Migration und Vertreibung
Verlag:
Taschen
Bestellnummer:
978-3-8365-6129-7
Preis:
49,99 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 08.02.2024 | 06:40 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Fotografie

Bildbände

Migration

NDR Logo
Dieser Artikel wurde ausgedruckt unter der Adresse: https://www.ndr.de/kultur/buch/Sebastiao-Salgado-Exodus,exodus156.html
Ein Latte Macchiato, eine Brille und eine Kerze liegen auf einem Buch © picture alliance / Zoonar | Oleksandr Latkun

Neue Bücher 2024: Die interessantesten Neuerscheinungen

Unter anderem gibt es Neues von Martina Hefter, Frank Schätzing, Markus Thielemann, Isabel Bogdan oder Lucy Fricke. mehr

Logo vom NDR Kultur Podcast "eat.READ.sleep" © NDR Foto: Sinje Hasheider

eat.READ.sleep. Bücher für dich

Lieblingsbücher, Neuerscheinungen, Bestseller – wir geben Tipps und Orientierung. Außerdem: Interviews mit Büchermenschen, Fun Facts und eine literarische Vorspeise. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Hände halten ein Smartphone auf dem der News-Channel von NDR Kultur zusehen ist © NDR.de

WhatsApp-Channel von NDR Kultur: So funktioniert's

Die Kultur Top-News aus Norddeutschland direkt aufs Smartphone: NDR Kultur ist bei WhatsApp mit einem eigenen Kanal aktiv. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Sänger Maxim von der Band The Prodigy während eines Auftritts in Kopenhagen 2023. © picture alliance / Gonzales Photo/Nikolaj Bransholm Foto: Gonzales Photo/Nikolaj Bransholm

Hurricane Festival: The Prodigy, Apache 207 und Sam Fender 2025 dabei

Die englische Elektro-Punk-Band The Prodigy und ein Who-is-Who der deutschen Pop- und HipHop-Szene haben sich für kommendes Jahr angekündigt. mehr

Das Logo von #NDRfragt auf blauem Hintergrund. © NDR

Umfrage zum Fachkräftemangel: Müssen wir alle länger arbeiten?