Die Normalität des Unmenschlichen
Die Sozialdokumentation ist das Spezialgebiet des brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado. Die Schwarz-Weiß-Fotografie ist sein Mittel. In fast allen Ländern dieser Welt hat Salgado mit seiner Leica Menschen und ihre Arbeit fotografiert. "Bildschön" ist das Buch "Exodus" des Fotografen Sebastião Salgado nicht unbedingt - bildgewaltig ist das bessere Wort.
Bildgewaltig und verstörend zeigt es das Elend der Welt auf 431 Seiten. Sebastião Salgado hat sechs Jahre lang in 40 Ländern Flüchtende porträtiert. Im Jahr 2000 kam sein Bildband heraus, nun ist er aus aktuellem Anlass wieder aufgelegt worden.
Vergessene Menschen
Das vier Kilogramm schwere Ungetüm ist wie ein Beschwerer, nicht für Briefe, sondern fürs Gewissen. Das Foto des Jungen mit den zerzausten blonden Haaren: Er reibt sich mit der kleinen Faust das Auge, als wäre er einfach nur gerade vom Mittagsschlaf aufgewacht. Doch kein Bett, nirgends, er steht ganz allein auf einem Trampelpfad, der das umgegrabene Feld mit den tausenden kleinen Hügeln und Furchen zerteilt, wie ein Steg, der mitten hinein führt in die Trostlosigkeit. 120 Menschen warteten damals, 1994 im Lager Ivankovo in Ostkroatien monatelang auf ihre Weiterfahrt. Man hatte die Flüchtlinge - bosnische Muslime, aber auch Serben und Kroaten - einfach vergessen.
Salgados Fotos jedoch kann man nicht vergessen. Sie sind wie eine Chronik von Vertreibung, Elend und einem der stärksten menschlichen Instinkte, der Menschen dazu bringt, alles Vertraute hinter sich zu lassen. In mitunter grobkörnigen Schwarz-Weiß-Fotos - er fotografiert nicht digital, sondern auf Film- dokumentiert Salgado, wie bereits vor 20 Jahren die Menschheit in Bewegung geraten ist - schon damals auf maroden Schiffen, festgezurrt in Güterwaggons oder Lastwagen. In Asien, Lateinamerika und Afrika. Doch sie kamen vor zwei Jahrzehnten nur selten in Europa an. So fiel es leichter, ihre Bilder zu vergessen oder sie als Protagonisten einer Nachrichtensendung irgendwo auf der Welt abzuspeichern.
Chronik der Vertreibung
Salgado aber baut ihnen mit jedem Bild eine Bühne, und besonders seine Panoramafotos ästhetisieren unmenschliche Lebensumstände: Da wirkt ein Flüchtlingslager in Ruanda auf den ersten Blick wie ein römisches Amphitheater. Er nähert sich langsam, wartet, bis Vertrauen in den Gesichtern zu sehen ist, bis die Kauernden, Eingepferchten, Wartenden sich unterhalten mit ihm, mit der Kamera, für diesen Augenblick. Im Vorwort schreibt der Fotograf, wie sehr diese Bilddokumentationen der Flucht überall auf der Welt ihn verändert haben:
"Schon früher hatte ich unter schwierigen Bedingungen gearbeitet. Meine politischen Überzeugungen, dachte ich, wüssten für viele Probleme einen Weg, und die Menschheit entwickele sich im Großen und Ganzen zum Guten. Auf das, was mich erwartete, war ich nicht vorbereitet. Was ich über das Wesen der Menschen und über die Welt, in der wir leben, gelernt habe, hat mein Bild von der Zukunft verdüstert." Leseprobe
Erschütternde Wirklichkeit
Mitunter ist es notwendig, das Böse auch zu sehen, um die Wirklichkeit in ihrem schockierenden Ausmaß zu fühlen und nicht nur zu begreifen. Man wünscht sich, dass es Holzstämme sind, die da in den Rusumo-Wasserfällen an der Grenze zwischen Ruanda und Tansania zwischen dem Unrat treiben und weiß doch längst, dass die Leichen damals, 1994, von den Mördern in den Fluss geworfen wurden. Oder der Mann, der triumphierend mit einem dicken Bündel Dollarscheine und einem Taschenrechner inmitten eines Flüchtlingslagers in Zaire steht. Er ist bereit für sein Geschäft: ein Geldwechsler. "Es wird sich auch hier etwas verdienen lassen, glaub mir nur", erzählen seine Augen. Salgado schreibt im Vorwort:
"Allzuoft bin ich dem Überlebenstrieb, diesem stärksten aller menschlichen Instinkte, in der Maske von Hass, Gewalttätigkeit und Habgier begegnet. Angesichts der Massaker, die ich in Afrika und Lateinamerika, der ethnischen Säuberungen, die ich in Europa gesehen habe, frage ich mich, ob es den Menschen je gelingen wird, ihre dunkelsten Instinkte zu beherrschen." Leseprobe
Sebastião Salgado weiß keine Antwort, aber sein Bildband "Exodus" ist ein allgemeingültiger Fragenkatalog - heute so aktuell und berührend wie vor fast 25 Jahren.
Exodus
- Seitenzahl:
- 432 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Zusatzinfo:
- Neuausgabe von Sebastião Salgados Klassiker zum Thema Exil, Migration und Vertreibung
- Verlag:
- Taschen
- Bestellnummer:
- 978-3-8365-6129-7
- Preis:
- 49,99 €