Schwimmen: Die Lieblingstätigkeit der Romanfiguren
In vielen neuen Büchern spielt das Schwimmen eine große Rolle - etwa in "22 Bahnen" von Caroline Wahl oder Arno Franks "Seemann vom Siebener". Alexander Solloch weiß, warum Autorinnen und Autoren ihre Figuren so gerne ins Becken schicken.
Zwar gibt es ungefähr Millionen von Büchern, die aber kreisen letztlich nur um zwei Themen: die Liebe und den Tod. Kochbücher kann man wohl von dieser Regel ausnehmen und das Bürgerliche Gesetzbuch. Obwohl, das kann man eigentlich überhaupt nicht ausnehmen, gerade da geht es doch ausdauernd um Liebe und Tod, wie in allen guten, wichtigen Büchern. Der von Liebe und Tod bedrohte Mensch täte gut daran, sich die Decke über den Kopf zu ziehen und den ganzen Tag im Bett liegen zu bleiben. Weil sowas aber kein Verlag druckt, muss der Mensch zwischendurch irgendetwas tun.
Die perfekte Zwischendurchtätigkeit
Die bewegendste, spannendste, dramaturgisch sinnvollste Zwischendurchtätigkeit ist einwandfrei das Schwimmen. Beinahe erstaunlich, dass die Autorinnen und Autoren das erst jetzt so richtig erkennen. Beziehungsweise aus dieser Erkenntnis erst jetzt die nötige Konsequenz gezogen wird: Das Personal in den Geschichten, vor allem wenn gerade sonst nichts los ist, schwimmen zu lassen.
Die Bahn dafür geebnet hat ihnen schon vor über 20 Jahren Sven Regener mit seinem Debütroman "Herr Lehmann". In dem ist vieles toll: etwa die Panik des Betrunkenen vor dem vermeintlich gefährlichen Hund, das Telefonat des bald 30-Jährigen mit den Eltern oder die Hasskaskade gegen die fürchterlichen Frühstücker (wir sehen: immer nur Liebe, immer nur Tod). Besonders toll ist natürlich das Freibadkapitel, in dem nicht nur das herrliche Wort Mehrzweckbecken literarische Weihen erhält, sondern sowieso schon alles über Glanz und Elend des institutionalisierten Freiluftschwimmens drinsteht.
Zwischen Liebe und Tod gibt es die Freiheit
Herr Lehmann, kein übermäßig an Bewegung interessierter Mensch - schon gar nicht an Bewegung, die sich in der Öffentlichkeit ereignet - geht ins Kreuzberger Prinzenbad, weil er dort die schöne Köchin Katrin treffen kann - das ist die Liebe. Im Bad selbst beobachtet Lehmann übellaunig, wie aufgedrehte Kinder immerzu vom Beckenrand ins Wasser springen, und bekommt eine Heidenangst, von einem "arschbombenden Chaoten versenkt zu werden" - das ist der Tod.
Aber zwischen Liebe und Tod gibt es die Freiheit. Sogar Herr Lehmann entdeckt sie unvermutet, als ihm klar wird, dass das Schwimmbad einer der ganz wenigen Orte ist, an dem er so sein kann, wie er ist. Ohne dass er irgendwie bewertet würde. Ob er nun zu dick ist oder zu dünn, zu haarig oder kahl, elegant übers Wasser schwebt oder knapp nur das Absaufen verhindert - danach kräht hier wirklich kein Blässhuhn! Dass Herr Lehmann zwischendrin das Schwimmexperiment abbricht, weil er zu viel grübelt, dabei Wasser schluckt und mit anderen Schwimmern kollidiert: geschenkt. Das sind eben die Wirren der Liebe. Die aber kommen und gehen - was bleibt, ist das Schwimmen im Freien. Die Freiheit beim Schwimmen.
Das Chaos von der Haut waschen
So ziehen sie jetzt alle ihre Bahnen durch die Gegenwartsliteratur: "22 Bahnen" heißt das Debüt der Rostocker Autorin Caroline Wahl. Ihre Protagonistin Tilda büffelt Mathe, schuftet an der Supermarktkasse, kümmert sich um ihre Schwester, trauert um einen verunglückten Freund - und dann springt sie ins Wasser, das ihr das Chaos von der Haut wäscht. Ebenso Nene in Annika Büsings "Nordstadt" ebenso Julle und Axel in Stephan Lohses demnächst erscheinendem Roman "Das Summen unter der Haut", ebenso Renate, Lennart und all die anderen in Arno Franks "Seemann vom Siebener". Der Frankfurter Autor Gabriel Herlich wiederum erzählt in "Freischwimmer" von einem jungen Mann, in dessen Leben sich alles ändert, nachdem er endlich schwimmen gelernt hat. Nie ist der Mensch so sehr Mensch wie in jenen Momenten, in denen er liebt, stirbt - oder schwimmt.
Natürlich wird auch im Kompendium des Menschlich-Allzumenschlichen, dem Bürgerlichen Gesetzbuch, unser Drang zum Schwimmen verhandelt: Ausdrücklich ist darin geregelt, dass in Abwasserkanälen nicht geschwommen werden darf - es sei denn, es gibt eine behördliche Genehmigung. Denn auch das kann die Literatur: Hoffnung spenden.