Schriftstellerin Heike Geißler: An Verzweiflungen wachsen!
"Verzweiflungen" spielten schon vor drei Jahren bei der Leipzigerin Heike Geißler im Roman "Die Woche" eine große Rolle. Jetzt hat sie den tiefsitzenden Abgründen und Nöten einen eigenen Essay gewidmet.
Als die vielfach ausgezeichnete Autorin Heike Geißler gerade an ihrem neuen Roman arbeitet, merkt sie: "Meine Romanfigur ist ständig verzweifelt. Aber die ist es eigentlich nicht, es war meine Verzweiflung. Die sprach da immer rein. Die floss immer in diese Figur. Und dann dachte ich, ich muss das ablegen, muss es notieren, muss einen Umgang damit finden."
So entstand ihr Essay "Verzweiflungen" - wohlgemerkt im Plural. Im Gespräch beschreibt die gerade 48 gewordene Heike Geißler, dass es vom Klimawandel über die Coronapandemie bis zu den aktuellen Wahlergebnissen reichlich Gründe gab und gibt zu verzweifeln. Heike Geißler hat dazu intensiv in sich selbst hineingehört, aber auch die Verzweiflungen von Familie und Freunden beobachtet. Die hat sie notiert und nun abgelegt.
Frau Geißler, das Thema Verzweiflung war auch schon im Roman "Die Woche" zu spüren: Politik, Europa, Gegenwart, Alltag. In dem Essayband kommen noch einige Themen hinzu: Kriege, Rechtsruck, Demokratiefeindlichkeit, um nur ein paar zu nennen. Waren das die zusätzlichen Impulse, sich diesem Thema Verzweiflung auch noch mal essayistisch zuzuwenden?
Heike Geißler: Einige davon. Diese Liste lässt sich tatsächlich sehr weit verlängern und auch verästeln. Es sind viele Dinge, die ich erst einmal als Zumutung empfinde - teilweise sind es Zumutungen, denen andere Menschen ausgesetzt sind, denen ich aber ohnmächtig gegenüberstehe, zur Zuschauerin verdammt. Konkret war der Anlass aber, dass ich eigentlich einen Roman geschrieben habe, aber merkte, dass meine Romanfigur ständig verzweifelt ist. Aber die ist es eigentlich nicht - es war meine Verzweiflung. Die sprach da immer rein und die floss immer in diese Figur. Dann dachte ich: Ich muss es ablegen, notieren, muss einen Umgang damit finden, der mir hilft, es auch von dieser Figur zu entfernen. Das Aufschreiben ist eine sehr konstruktive Angelegenheit, so allgemein gesagt. Aber natürlich, es mangelt nicht an Anlässen zu verzweifeln. Die Frage ist ja auch: Wie sehr öffnet man sich? Ich glaube, sehr offen zu sein, durchlässig zu sein, ist eine Notwendigkeit. Aber die wird auch bespielt, ausgenutzt, überstrapaziert. Aber ich betrachte es auch als meine Aufgabe, als Autorin möglichst offen, bespielbar zu sein. Partiell bin ich ein Gefäß und stehe zur Verfügung für den Text der Zeit.
Verzweiflung und Angst - das sind schon auch Geschwister in Ihrer Weltwahrnehmung, oder?
Geißler: Ja, das scheinen Verwandte zu sein, das würde ich auch sagen. Vielleicht kann ich noch ergänzen, warum ich den Plural im Titel "Verzweiflungen" verwende. Ich weiß gar nicht mehr, wie das kam, aber für mich war klar: Genau so muss das Buch heißen. Von Anfang an war das im Plural. Dann dachte ich: Es ist aber irgendwie auch gut, wenn es nicht die Verzweiflung ist, die man erst mal als Gegnerin hat, als großen Aufenthaltsbereich quasi, sondern wenn es mehrere Verzweiflungen sind. Es scheint eine Vermehrung zu sein, es gibt für mich aber auch einen Anfang und ein Ende. Eine Verzweiflung ist da, da die andere, da ist die nächste. Für mich ist es auch eine Form der Sortierung und der Unterbrechung. Es gibt Lücken, und da kann man auch rein und durch.
Das Gespräch wurde geführt von Joachim Dicks. Das komplette Interview können Sie in der ARD Audiothek hören und überall, wo es Podcasts gibt.
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