von Andrea Heußinger

Ein Video aus dem Jahr 1995, von einer Schul-Aufführung des Musicals "Camelot" an einem Internat. Darin: ein Mädchen mit dunklen Locken und grünem Kleid. Thalia Keith. Es ist das letzte Mal, dass sie lebend zu sehen ist. Denn kurz nach der Aufführung wurde Thalia ermordet. Mehr als 20 Jahre später sieht sich eine Mitschülerin das Video an: Bodie Kane hat es von einer Schulfreundin zugeschickt bekommen. Auch Bodie war bei der Aufführung dabei, kannte die Tote, hat zeitweise sogar das Zimmer mit ihr geteilt:

"Es ist kaum wahrnehmbar, aber sie wirkt gereizt. Und dann, während Merlin seine Abschiedsrede hält und Artus und Camelot auf Wiedersehen sagt, schaut sie erneut über die Schulter zur Seite. Sie formt mit den Lippen ein Wort; ich bilde es mir nicht ein. Ihr Mund scheint sich schließen zu wollen und öffnet sich dann wieder, was einen W‑Laut ergibt, wenn ich es nachmache. Sie sagt, da bin ich mir fast sicher: Was. Vielleicht zu jemandem aus meiner Crew, die ein vergessenes Requisit hochhält? Aber was hätte in dem Moment, so kurz bevor sie abging, noch derart wichtig sein können?" Leseprobe

20 Jahre zurückliegender Mord lässt Bodie nicht los

Die Fragen lassen Bodie nicht los. Und als sie zwei Jahre später das Angebot bekommt, für zwei Wochen als Dozentin an das Internat in den Wäldern von New Hampshire zurückzukehren, sagt sie zu. Obwohl sie mit der Vergangenheit eigentlich nichts mehr zu tun haben wollte: die schrecklichen Ereignisse in ihrer Kindheit, am Internat eine Außenseiterin, dann der Mord an der Mitschülerin.

Inzwischen ist Bodie erfolgreiche Podcasterin. In ihren Sendungen geht es um Verbrechen an Frauen - die meisten von ihnen berühmt, reich und schön. In ihrem Podcast-Seminar am Internat will eine Schülerin den Mord an Thalia bearbeiten. Bodie ist hin- und hergerissen, willigt aber ein.

Sitzt der richtige Mann im Gefängnis?

"Ich hätte da ein paar Fragen an Sie": Dieses "Sie" im Titel ist großgeschrieben, eine ganz bestimmte Person. Jemand aus Bodies Vergangenheit. Denn bei ihr wachsen die Zweifel, dass wirklich der richtige Mann wegen des Mordes an Thalia seit inzwischen mehr als 20 Jahren im Gefängnis sitzt.

Grund sind zum einen die Recherchen der Schülerin, zum anderen fallen aber auch ihr selbst immer mehr Situationen und Ereignisse wieder ein, die sie verdrängt oder als Schülerin vielleicht auch falsch verstanden hatte. Parallel recherchiert auch sie - und tatsächlich finden sich irgendwann Indizien. Aber werden die vor Gericht ausreichen?

Abrechnung mit dem Rechtssystem - und der Gesellschaft

Es geht hier um einen Mordfall, wie er (so oder so ähnlich) fast täglich geschieht und in den Nachrichten ist - das macht Autorin Rebecca Makkai immer wieder deutlich:

Welche Geschichte das war, spielt keine Rolle. Sagen wir, es war die mit den jungen Schauspielerinnen, die Ja zu einer Poolparty sagten, ohne zu wissen, worauf sie sich einließen. Oder die mit dem Rugbyteam, das den Tod des Mädchens vertuschte und von der Schule gedeckt wurde. Nein, es war die mit dem Therapeuten, der jahrelang Minderjährige anmachte. Die mit dem Senator, damals ein vielversprechender Teenager, der dem jungen Mädchen seinen Schwanz in den Mund schob. Sie war auch ein vielversprechender Teenager. Es war die mit dem Milliardär, der die Frau in die Telefonzelle gedrängt hatte, was ihr aber niemand glaubte. Leseprobe

Aufzählungen solcher Gewalttaten finden sich immer wieder in diesem Krimi, der gleichzeitig auch eine Abrechnung ist mit dem Rechtssystem - und mit der Gesellschaft. Es geht um die Rolle der Frau, und es geht um Männer und Jungen, die auf ganz unterschiedliche Weise zu Tätern werden: Da schwingt viel Bitterkeit mit, das zu lesen ist hart, aufrüttelnd - und alles andere als leichte Kost. "Ich hätte da ein paar Fragen an Sie" ist wirklich kein angenehmer Roman. Lesenswert ist er trotzdem.

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