Das Buch "Tod eines Kritikers" von Martin Walser © picture-alliance / dpa Foto: Boris Roessler

Rainer Moritz: "Unantastbar - das sind die langweiligen Autorinnen und Autoren"

Stand: 08.08.2023 07:00 Uhr

Eine Balance zwischen weiblichen und männlichen Autoren gebe es bereits, aber sie haben keinen meinungsbildenden Einfluss mehr. Stattdessen werden vor allem Walser, Lenz, Böll & Co. im Literaturkanon verbleiben, meint Rainer Moritz.

Mit Martin Walser ist einer der letzten alten weißen Männer der (west-)deutschen Nachkriegsliteratur gestorben. Wer rückt nach und wer könnte den Platz der großen Literaten aus dieser Liga, wie Grass, Lenz oder eben auch Walser, einnehmen? Ein Gespräch mit dem Literaturkritiker und Leiter des Literaturhauses Hamburg, Rainer Moritz.

Walser, Lenz, Enzensberger - das sind drei Autoren, die die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs stark geprägt hat und die ihrerseits der (westdeutschen) Nachkriegsliteratur ihren Stempel aufgedrückt haben. Wer kann oder wird diese Rolle jetzt übernehmen, in ihre Fußstapfen treten, Herr Moritz?

Rainer Moritz: Das ist eine sehr gute und eine sehr schwierige Frage. Man tut sich, glaube ich, ein wenig schwer, wenn man davon ausgeht, dass Rollen einfach übernommen werden können. Rollen hängen auch immer von den historischen Umständen ab. Natürlich stand die Generation Siegfried Lenz, Hans Magnus Enzensberger, auch Günter Grass müssen wir natürlich in dem Zusammenhang nennen, und Martin Walser für ein bestimmtes neues Aufbegehren in der Bundesrepublik. Das heißt, der Krieg ist verarbeitet worden, ist in vielen Texten auch bearbeitet worden. Aber dann kam das sogenannte Wirtschaftswunder, die aufkeimende Bundesrepublik, und das war gerade für Martin Walser das entscheidende Thema. Heute sind wir in ganz anderen Zeitläufen: Wollen die heutigen Autorinnen und Autoren diese Rolle auch öffentlich wahrnehmen oder wollen sie "nur schreiben"? Diese Rolle steht natürlich heute unter ganz anderen Vorzeichen. Deswegen meine erste, etwas enttäuschende Antwort: Es wird keine Autorinnen oder Autoren geben, die diese Aufgabe übernehmen können und übernehmen wollen, einfach weil wir ganz andere Zeiten haben - und wohl auch der Einfluss von Literatinnen und Literaten geringer geworden ist.

Sie haben es gerade gesagt: Wir haben andere Zeiten. Wie sieht es denn in diesen Zeiten mit einer Balance aus von Männern und Frauen - gibt es die, sollte es die geben?

Moritz: Die gibt es natürlich, Gott sei Dank, viel stärker als früher. Lenz, Enzensberger, Walser, Heinrich Böll oder Max Frisch, der ja auch in der Bundesrepublik einen wichtigen Einfluss hatte - das sind in der Tat weiße Männer gewesen. Es gab aber auch Frauen in der Nachkriegsliteratur, die eine wichtige Rolle gespielt haben: Ingeborg Bachmann etwa - aber Frauen waren in der Minderheit. Das hat sich deutlich verändert. Wenn die Feuilletons oder die Rundfunkanstalten heute zu irgendwelchen Zeitthemen Autorinnen und Autoren befragen, dann haben wir, glaube ich, aus guten Gründen ein sehr ausgewogenes Verhältnis. Autorinnen wie Eva Menasse, Juli Zeh oder Thea Dorn nehmen in solchen "Umfragen" eine wichtige Rolle ein. Ich glaube, da hat sich das Verhältnis mittlerweile ganz gut austariert.

Bei Goethe und Schiller denkt man natürlich sofort an Klassiker, die für alle Zeiten im Literaturkanon bleiben werden. Könnte auch Martin Walser zu so einem Klassiker werden?

Moritz: Das Schöne ist, dass man das nicht vorhersagen kann. Die Kanons verändern sich - und das ist auch gut so. Die Literatur des 19. Jahrhunderts, die sogenannten Bestsellerlisten, verzeichnen unglaublich viele Autorinnen und Autoren, die damals große Auflagenkönige waren und heute gänzlich vergessen sind. Auch Nobelpreisträger wie Paul Heyse sind völlig in Vergessenheit geraten. Man muss also mit Prognosen vorsichtig sein. Ich bin aber sicher, dass Martin Walser bzw. einige seiner Bücher fest im Kanon der nächsten Jahrzehnte bleiben werden. Ob das dann in 30, 40, 50 Jahren auch noch so sein wird, ob dann auch der Stoff noch interessiert oder die Art und Weise, wie Walser geschrieben hat, das ist eine ganz andere Sache. Aber einige Bücher könnte ich Ihnen sofort aufzählen, von denen ich behaupte würde, die werden bleiben.

Martin Walser war - wie Günter Grass, Siegfried Lenz und all die anderen schon genannten, eine Art "unantastbare Größe". Wäre das heutzutage eigentlich noch möglich, als Figur des öffentlichen Lebens, als Schriftstellerin oder Schriftsteller, so über allen Dingen zu stehen? Wir haben heute Social Media, die moderne Medienlandschaft - kann man da so unantastbar bleiben?

Moritz: Nein, das kann man zum Glück nicht. Und wenn wir ganz ehrlich sind: War Günter Grass, war Martin Walser unantastbar? Gerade Walser war berühmt dafür, dass er gerne gezündelt hat, dass er Skandale entfacht hat, dass er auf der Medienklaviatur gespielt hat wie kaum ein Zweiter. Das heißt, auch zu Lebzeiten hat es an Martin Walser viel Kritik gegeben: Die Paulskirchenrede, seine Auseinandersetzung mit Marcel Reich-Ranicki - wir müssen das gar nicht noch mal aufzählen, das ist in den letzten Tagen ja oft beschrieben worden. Martin Walser war also einer, der ausgeteilt hat, der gerne ausgeteilt hat, aber auch viel einstecken musste in seinem Leben - also ein großer Mann des öffentlichen Lebens. Ein Autor oder eine Autorin, die sich einmischen, die werden, glaube ich, nie unantastbar sein. Auch der französische Autor Emile Zola hat sich immer eingemischt - und war ein höchst umstrittener Autor. Unantastbar - das sind, glaube ich, eher die langweiligen unter den Autorinnen und Autoren.

Sie sagten gerade schon: Die großen Literaten haben sich auch immer wieder eingemischt in große gesellschaftliche Debatten. Inzwischen ist es so, dass sich viele um eine diversere Berichterstattung bemühen, um Ausgeglichenheit in solchen Meinungsdebatten. Führt das dann nicht auch dazu, dass eben nie wieder so ganz große einzelne Protagonistinnen oder Protagonisten auftauchen werden?

Moritz: Ja, das ist ein wichtiger Aspekt. Durch das Internet hat eine Art Demokratisierung stattgefunden. Ob die jetzt immer zu klügeren Meinungen führt, das ist wieder eine ganz andere Angelegenheit. Aber zumindest melden sich mehr Stimmen zu Wort, es werden auch mehr Stimmen reproduziert. Das Internet bietet viele Möglichkeiten auch für Autoren, die nicht ganz in der ersten Reihe stehen, sich zu Wort zu melden. Aber dieser Prozess ist nicht unbedingt an die sozialen Medien gekoppelt. Es ist schon lange zu beobachten, dass es die großen, wirklich meinungsführenden Figuren gar nicht mehr gibt in der deutschsprachigen Literatur. Walser, Grass oder Siegfried Lenz hatten einen enormen Einfluss in den 60ern und frühen 70ern, als in der Bundesrepublik plötzlich die Regierung gewechselt hat. Da waren diese Autoren treibend dabei. Das ist etwas, was man sich heute kaum noch vorstellen kann: dass Daniel Kehlmann, Eva Menasse oder wer auch immer im aktuellen politischen Diskurs meinungsführend werden. Ich glaube, diese Zeiten sind seit langem vorbei. Die Literatur hat diese Rolle verloren, sie hat diese Rolle auch nur wenige Jahrzehnte nach 1945 gehabt. Aber wir müssen damit leben. Das ist manchmal nicht ganz einfach zu ertragen, weil wir uns alle wünschen, dass stärker auch auf Stimmen aus der Kunst und aus der Literatur gehört wird. Aber das war in den letzten 20 Jahren schon längst nicht mehr so.

Was glauben Sie, wie könnte der Literaturkanon in 20, 30 Jahren aussehen?

Moritz: Es gibt einige Titel, von denen ich sagen würde, da gibt es Hoffnung, dass sie bleiben. Heinrich Böll zum Beispiel: Von ihm werden viele Bücher heute nicht mehr gelesen. Ich selber habe von der Literatur der 50er-Jahre Hans Erich Nossack als einen berühmten Hamburger Autor im Blick gehabt, dessen Bücher heute kaum noch lieferbar sind. Das kann sich sicher sehr schnell ändern. Aber wenn wir noch einmal auf Martin Walser zurückkommen: "Ein springender Brunnen" ist für mich sein schönstes Buch. Es ist das Buch über seine Kindheit, sein Aufwachsen - dass dieses und "Seelenarbeit" und weitere im Kanon noch eine ganze Weile bleiben werden, da bin ich mir sicher.

Das Interview führte Julia Westlake für NDR Kultur.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 07.08.2023 | 16:20 Uhr

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