Nobelpreisträgerin Alice Munro ist tot: Meisterin der Kurzgeschichte
Die kanadische Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro ist tot. Sie starb im Alter von 92 Jahren in der Provinz Ontario. Munro gilt als eine der angesehensten Autorinnen von Kurzgeschichten in der Literaturgeschichte.
2013 war die vor allem für ihre Kurzgeschichten berühmte Schriftstellerin als erste Kanadierin mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden. Die Nobelpreis-Akademie in Stockholm begründete die Ehrung mit ihrer Fähigkeit, "die gesamte epische Komplexität eines Romans in nur wenigen kurzen Seiten unterzubringen".
Viele von Munros Kurzgeschichten spielen in Südwest-Ontario, einige davon in der Stadt Vancouver in British Columbia. Ihr Prosastil wurde als klar und direkt beschrieben, ihr Ton als nüchtern, doch legten die Handlungen ihrer Erzählungen Abgründe in unendliche Widrigkeiten und Enttäuschungen des Lebens offen - zerrüttete Ehen, gewaltsame Todesfälle, Wahn oder nie gewagte Träume. "Sie erzählt auf ganz wenigen Seiten von Trauer, Liebe, von allem, was das Leben ausmacht, aber auch in den verzweifelsten Situationen immer mit einem kleinen Funken Hoffnung", sagt eat.Read.sleep-Host Jan Ehlert über ihr Werk. "Mir ist die Geschichte 'Dimensionen' in Erinnerung geblieben. Da lernen wir Doree kennen, eine Frau, die zu ihrem Mann ins Gefängnis fährt. Und Schritt für Schritt erahnen wir: Ihr Mann hat die drei gemeinsamen Kinder ermordet. Trotz dieses furchtbaren Geschehens fährt Doree hin, hält an ihm fest, will dran glauben, dass vielleicht doch noch eine gemeinsame Zukunft für sie möglich ist, obwohl es eigentlich gar nichts zu glauben gibt. Diese Zerbrechlichkeit, dieses Festhalten an Dingen, an denen man nicht festhalten sollte, macht für mich diese Kurzgeschichten aus, weil da einfach so viel Wahrheit drinsteckt."
Ehe-Ende führt zur Befreiung als Autorin
Alice Munro hat sich oft mit den Beschränkungen beschäftigt, die einem Frauenleben auferlegt waren. Geboren wurde die Schriftstellerin 1931 als älteste von drei Geschwistern auf einer Silberfuchsfarm in dem kleinen Ort Wingham in der kanadischen Provinz Ontario. Schon als kleines Mädchen erfand sie Geschichten - ihren ersten Erzählband (deutscher Titel "Tanz der seligen Geister") aber veröffentlichte Munro 1968 mit fast 40 Jahren.
Anfang der 1970er-Jahre verließ Munro ihren Ehemann James. Später stellte sie fest, dass sie damals "nicht bereit gewesen war, die unterwürfige Frau zu sein". Nach ihrem Ehe-Aus habe sie sich darauf verlegt, "Miniröcke zu tragen und herumzustolzieren", erinnerte sie sich 2003 in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur AP. Wie sehr sich Munros Leben verändert hatte, zeigte wohl ihr Eintrag im jährlichen kanadischen Zensus. Seit Jahren hatte sie ihren Beruf als "Hausfrau" angegeben. 1971 schwenkte sie erstmals auf Autorin um.
Wichtige Inspirationsquelle für Margaret Atwood
"Ihr Schreiben hat unzählige Autoren inspiriert und ihr Werk hinterlässt ein unauslöschliches Zeichen in unserer literarischen Landschaft", heißt es in der Mitteilung des Verlags Penguin Random House Canada am Dienstag. Unter anderem war sie eine wichtige Inspiration für Margaret Atwood ("Der Report der Magd"). "In den 1950er- und 1960er-Jahren, als Munro anfing zu schreiben, hatte man das Gefühl, dass nicht nur Schriftstellerinnen, sondern auch Kanadierinnen als Eindringlinge und Grenzgängerinnen galten", schrieb Atwood in einer 2013 im "Guardian" veröffentlichten Würdigung, nachdem Munro den Nobelpreis erhalten hatte.
Aus gesundheitlichen Gründen hatte sich Munro immer stärker aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. In ihren letzten Lebensjahren litt sie an einer Demenz. Schon zur Verleihung des Nobelpreises reiste sie nicht nach Stockholm. Der Kurzgeschichtenband "Liebes Leben" - in Deutschland 2013 erschienen - wurde ihr letztes Werk. Am 13. Mai 2024 starb sie in einem Pflegeheim in der Provinz Ontario im Osten Kanadas.