Lynette Yiadom-Boakye: Menschen als Fantasiegebilde
Lynette Yiadoms Bokayes Bildband "Fliegen im Verbund mit der Nacht" ist ein Buch voller erfundener Figuren. Jede davon wirkt so authentisch, so faszinierend, dass wir ihr gespannt in ihre eigene Wirklichkeit folgen.
Die Porträtierten wirken so lebendig, so wahrhaftig, dass es schwerfällt zu glauben, was die Ausstellungsdirektorin der Tate, Andrea Schlieker, über sie schreibt: "Die Menschen, die Yiadom-Boakye malt, sind nicht real, sondern Fantasiegebilde."
Lebendige Porträts nach Foto-Vorlagen
Tatsächlich malt Lynette Yiadom-Boakye nicht nach lebenden Modellen. Die Gesten und Gesichtszüge ihrer Figuren findet sie auf Fotos in Zeitungen und Zeitschriften, auf Familienschnappschüssen oder in der Kunstgeschichte.
Auch wenn sie nicht real sind, pflegt die Malerin ein ganz spezielles Verhältnis zu diesen Mischwesen aus Fakten und Fiktion. Sie sagt: "Ich stelle sie mir als Menschen vor, die ich kenne. Sie sind von einer ganz eigenen Macht erfüllt. Ich bewundere sie für ihre Kraft, ihre Charakterstärke."
Die Männer und Frauen stehen allein oder in Gruppen, liegen auf Kanapees oder in der freien Natur. Sie blicken in die Ferne oder lächeln uns aus dem Bild heraus an. Allen Dargestellten ist eines gemein: Sie sind schwarz.
Schwarze Menschen stehen im Vordergrund
Eine Beobachtung, die erschreckend klar macht, wie wenig Raum dunkelhäutige Menschen sonst in der westlichen Kunstgeschichte haben. Auf Gemälden früherer Jahrhunderte tauchen sie - wenn überhaupt - im Hintergrund auf: als Diener, Sklaven, Exotinnen.
Bei Lynette Yiadom-Boakye dagegen nehmen die schwarzen Protagonisten ganz selbstverständlich den Platz im Vordergrund ein. Ihre Körperhaltungen und das Selbstbewusstsein, das sie ausstrahlen, erinnern an Posen der klassischen Porträtmalerei. Anders als die alten Meister verzichtet die Künstlerin jedoch darauf, ihre Figuren mit Symbolen für Reichtum, Rang und Macht auszustatten.
"Indem Yiadom-Boakyes Gemälde jede soziale Zuordnung vermeiden und das Großspurige zugunsten einer Atmosphäre der Bescheidenheit scheuen, teilen sie das, was Erwin Panofsky als das zentrale Anliegen der Renaissancekünstler beschrieb: nämlich das 'herauszustellen, was den Dargestellten mit der übrigen Menschheit verbindet'", erklärt die Kuratorin Andrea Schlieker.
Politische Kunst ohne Stereotype
Die Malerin betrachtet ihre Kunst als politisch, obwohl sie die direkte Darstellung von Rassismus vermeidet: "Ich habe immer gegen die Erwartung angekämpft, dass es nur eine bestimmte Art gibt, Ärger und Zorn zu kanalisieren, eine einzige Sprache des politischen Statements. Stereotypen zu vermeiden, nicht die Wahrnehmung zu illustrieren, die die Außenwelt von einem hat, erschien mir immer als das Bahnbrechendste, was ich tun konnte."
Beim Malen tritt sie immer wieder von der Leinwand zurück, um die Ausstrahlung ihrer Figuren zu prüfen. Sie sagt: "Sobald mir jemand leidtut, werde ich ihn oder sie los. Ich male keine Opfer."
Die Britin gilt als eine der bedeutendsten Malerinnen der Gegenwart. Gerade hat die Londoner Tate Gallery die 44-Jährige mit einer Einzelschau geehrt. Wegen des Corona-Lockdowns konnte allerdings kaum jemand die Ausstellung sehen. Aber ab November kommenden Jahres wird die Schau wiederholt.
Fliegen im Verbund mit der Nacht
- Seitenzahl:
- 192 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Zusatzinfo:
- Texte von Elizabeth Alexander, Isabella Maidment, Andrea Schlieker, 120 Abb., Hardcover, 23,00 x 27,50 cm
- Verlag:
- Hatje Cantz
- Bestellnummer:
- 978-3-7757-5034-9
- Preis:
- 44,00 €