Cover "Links ist nicht woke" von Susan Neiman © Hanser Berlin
Cover "Links ist nicht woke" von Susan Neiman © Hanser Berlin
Cover "Links ist nicht woke" von Susan Neiman © Hanser Berlin
AUDIO: Buchkritik: "Links ist nicht woke" von Susan Neiman (5 Min)

"Links ist nicht woke": Susan Neimans streitbarer Essay

Stand: 13.09.2023 09:55 Uhr

Der Begriff "woke" steht für politisch linkes Engagement und ist auch ein Reizwort. Die US-Philosophin Susan Neiman hat darüber die Streitschrift "Links ist nicht woke" veröffentlicht, die mehr unterstellt als analysiert.

von Patric Seibel

Das englische Wort "woke" bedeutet soviel wie "wach" oder "wachsam". Im heutigen Sprachgebrauch steht "woke" für politisch linkes Engagement für gesellschaftlich ausgegrenzte Gruppen. Doch "woke" ist mittlerweile auch ein Reizwort: Vor allem für Konservative und Rechte ist es längst zum Schimpfwort und Hassbegriff geworden.

Weitere Informationen
Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann
42 Min

Tee mit Warum: Wie prägt Sprache unsere Wirklichkeit?

Was ist zuerst da? Das Wort oder die Wirklichkeit? Denise und Sebastian philosophieren darüber in der neuen Folge von Tee mit Warum. 42 Min

Streitschrift "Links ist nicht woke" löst heftige Debatten aus

Auch innerhalb der politischen Linken wird "wokeness" kritisch betrachtet. Jetzt hat Susan Neiman, US-Philosophin und Leiterin des Potsdamer Einstein-Forums, eine Streitschrift unter dem Titel "Links ist nicht woke" veröffentlicht. Sie möchte damit traditionelle linke Positionen stärken. Kurz nach dem Erscheinen hat ihr Text bereits heftige Debatten ausgelöst.

Susan Neiman bezeichnet sich als traditionelle Linke. Ihr politischer Kompass: Der Universalismus. Die Überzeugung, dass Rechte für alle Menschen gleichermaßen gelten. Die sogenannte woke Linke habe diese Einsicht über Bord geworfen:

Mich beschäftigt (…) , warum sich sogenannte linke Stimmen der Gegenwart von philosophischen Ideen verabschiedet haben, die für den linken Standpunkt von zentraler Bedeutung sind: ein Bekenntnis zum Universalismus statt zum Stammesdenken, eine klare Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Macht und die Überzeugung, dass Fortschritt möglich ist.

Susan Neiman wirft den woken Linken Partikularismus vor

Neiman wirft den woken Linken Partikularismus vor, also Werte nur für kleine Gruppen zu reklamieren, die wie indigene Stämme auf ihre jeweilige Identität pochten. Dieses von ihr so genannte Stammesdenken sei mit rechten Positionen verwandt. Der alte Universalismus der philosophischen Aufklärung gelte den Woken lediglich als Deckmantel europäischer Interessen:

Doch es ist fatal, zu vergessen, dass Denker wie Rousseau, Diderot und Kant die ersten waren, die den Eurozentrismus und den Kolonialismus verurteilten.

Text fällt hinter Komplexität von Adorno und Horkheimer zurück

In ihrer pauschalen Unterstellung, die woke Linke verachte die Aufklärung, fällt Neiman weit hinter die Komplexität von Autoren wie Adorno und Horkheimer zurück, die schon vor 80 Jahren in der Dialektik der Aufklärung auf die Schattenseiten der Vernunft hinwiesen, ohne dabei die Vernunft über Bord zu werfen.

Insgesamt problematisch ist, dass Neiman versucht, eine Art Theorie-DNA zu identifizieren, aufgrund derer die Woken, ohne es zu bemerken, eigentlich rechte Gedanken vertreten. Daran ist sie krachend gescheitert. Schon allein deswegen, weil "woke" ein viel zu nebulöser und beliebiger Begriff geworden ist, um diesen wissenschaftlich zu analysieren.

Autorin vermischt deutsche und US-Debatten

Das beginnt schon bei den unterschiedlichen nationalen Diskursen - hier vermischt sie beispielsweise durchgängig deutsche und US-amerikanische Debatten. Neiman arbeitet sich seitenlang am französischen Macht-Theoretiker Michel Foucault ab, den sie als Urahn woken Denkens identifiziert. Sie wirft ihm vor, keine gesellschaftlichen Fortschritte erkennen zu wollen sondern immer nur eine Verfeinerung von Machtstrukturen.

Das sei der Grundsatz, der dazu geführt habe, dass die woke Bewegung heute nicht mehr für gesellschaftlichen Fortschritt streiten könne. Vollends ärgerlich ist ihr Versuch, eine theoretische Verwandtschaft zwischen Foucault und dem NS-Juristen Carl Schmitt herbeizuschreiben:

Gemeinsam war ihnen die Verachtung der Idee einer universalen Menschheit und der Unterscheidung zwischen Macht und Gerechtigkeit sowie eine tiefsitzende Skepsis gegenüber einem jeglichen Fortschrittsdenken.

Absurder Vergleich

Der Vergleich zwischen Michel Foucault und rechten Denkern wie Carl Schmitt oder auch Martin Heidegger drängt sich vorsichtig gesprochen nicht auf. Klarer gesagt: Er ist absurd. Allein schon deswegen, weil Carl Schmitt, ein nationalsozialistisch-biologisches Verständnis von Macht hochhielt und verteidigte, Foucault dagegen Machtstrukturen aus Sicht der Unterdrückten kritisierte.

In ihrem Versuch der woken Linken zu unterstellen, sie sei im Grunde rechts, zieht Susan Neiman auch die Evolutionsbiologie heran, die in kruden Aussagen wie jener vom egoistischen Gen, das angeblich unser soziales Handeln steuere, vor Jahrzehnten für Schlagzeilen sorgte.

Der Konstruktionsfehler von Neimans Streitschrift liegt darin, dass sie kulturelle Forderungen, Minderheiten die gleiche Anerkennung zu gewähren, wie der Mehrheitsgesellschaft, als biologische wertet. Sie unterstellt also der Linken einen Biologismus, den üblicherweise die Rechte hochhält. In ihrer Polemik wird Susan Neiman auch unfreiwillig komisch:

Als englische Muttersprachlerin weigere ich mich, die in Deutschland übliche und amtlich abgesegnete Äußerung zu akzeptieren, dass jeder, der Ausdrücke wie "Bürger und Bürgerinnen" ablehnt, ein unverbesserlicher Sexist ist.

Haltung, die lieber unterstellt, als zu analysieren

Dass es in Deutschland "amtlich abgesegnet" sei, als Sexist zu gelten, wenn man nicht "Bürgerinnen und Bürger" sage, gehört in den Bereich Fake-News und AfD-Sprech. Man kann angesichts manch "woker" Einlassung selbstverständlich mit Gründen skeptisch sein, aber das sind politische Fragen, die immer im konkreten Einzelfall entschieden werden müssen und keine philosophischen. Neimans Text ist innerhalb einer erregten Dauerdebatte selbst ein weiteres Beispiel für eine kulturkämpferische Haltung, die lieber etwas unterstellt als analysiert.

Weitere Informationen
Ein grimmig schauender Mann vor einer Regenbogenfahne. (extra 3 vom 15.06.2023 im Ersten) © NDR
15 Min

Wokeness, Queerness, Gender und Trans: Leitfaden für konservative Kulturkämpfer (mit Oliver Kalkofe)

Vor allem die Konservativen in diesem Land sind besessen von diesen Themen. Und erzählen das nicht etwa ihren Therapeuten, sondern uns. 15 Min

Ex-Bild-Chefredakteur Julian Reichelt © NDR
26 Min

Wie Julian Reichelt die Wirklichkeit verdreht - und was dahinter steckt

Julian Reichelt teilt gegen alles aus, was seiner Ansicht nach "grün" und "woke" ist - doch er verdreht dabei immer wieder Fakten und Zitate. 26 Min

Santiago Abascal (l-r), Vorsitzender der rechten Partei Vox, Yolanda Diaz, linke Sumar-Kandidatin für das Amt des Regierungschefs, und Pedro Sanchez, aktueller Regierungschef von Spanien und sozialistischer Kandidat bei der kommenden Wahl, stehen zusammen vor einer live im Fernsehen übertragenen Debatte im Vorfeld der spanischen Parlamentswahlen. © Eduardo Parra/EUROPA PRESS/dpa
6 Min

Rückt Spanien nach rechts? Sonntag wird gewählt

Die rechtspopulistische Partei Vox könnte das Zünglein an der Waage für die Konservativen sein. Alle Feministen, alles Linke, alles Woke stört viele Vox-Anhänger und da schließen sich viele Spanier an. 6 Min

Links ist nicht woke

von Susan Neiman
Genre:
Sachbuch
Zusatzinfo:
übersetzt aus dem Englischen von Christiana Goldmann
Verlag:
Hanser Berlin
Veröffentlichungsdatum:
2. September 2023
Bestellnummer:
ISBN: 9783446278028
Preis:
22 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Kultur | 02.09.2023 | 09:55 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Sachbücher

Cover: "Die Fehlbaren - Politiker zwischen Hochmut, Lüge und Unerbittlichkeit" von Helene Bubrowski © dtv

"Die Fehlbaren": Politiker zwischen Lüge und Unerbittlichkeit

Helene Bubrowski zeigt im Buch, warum es vielen Politikern so schwerfällt, ihre Fehler angemessen zu kommunizieren und Schwächen zuzugeben. mehr

Ein Latte Macchiato, eine Brille und eine Kerze liegen auf einem Buch © picture alliance / Zoonar | Oleksandr Latkun

Bücher 2024: Das waren die interessantesten Neuerscheinungen

Unter anderem gab es Neues von Martina Hefter, Frank Schätzing, Markus Thielemann, Isabel Bogdan oder Lucy Fricke. mehr

Logo vom NDR Kultur Podcast "eat.READ.sleep" © NDR Foto: Sinje Hasheider

eat.READ.sleep. Bücher für dich

Lieblingsbücher, Neuerscheinungen, Bestseller – wir geben Tipps und Orientierung. Außerdem: Interviews mit Büchermenschen, Fun Facts und eine literarische Vorspeise. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Charlie Hübner sitzt an einem Tisch. © Thomas Aurin

Charly Hübner als wandelbarer Antiheld in "Late Night Hamlet"

Munteres Late Night Geplauder trifft auf Shakespeare-Drama - so das Setting für den Solo-Abend im Schauspielhaus Hamburg. mehr