"Links ist nicht woke": Susan Neimans streitbarer Essay
Der Begriff "woke" steht für politisch linkes Engagement und ist auch ein Reizwort. Die US-Philosophin Susan Neiman hat darüber die Streitschrift "Links ist nicht woke" veröffentlicht, die mehr unterstellt als analysiert.
Das englische Wort "woke" bedeutet soviel wie "wach" oder "wachsam". Im heutigen Sprachgebrauch steht "woke" für politisch linkes Engagement für gesellschaftlich ausgegrenzte Gruppen. Doch "woke" ist mittlerweile auch ein Reizwort: Vor allem für Konservative und Rechte ist es längst zum Schimpfwort und Hassbegriff geworden.
Streitschrift "Links ist nicht woke" löst heftige Debatten aus
Auch innerhalb der politischen Linken wird "wokeness" kritisch betrachtet. Jetzt hat Susan Neiman, US-Philosophin und Leiterin des Potsdamer Einstein-Forums, eine Streitschrift unter dem Titel "Links ist nicht woke" veröffentlicht. Sie möchte damit traditionelle linke Positionen stärken. Kurz nach dem Erscheinen hat ihr Text bereits heftige Debatten ausgelöst.
Susan Neiman bezeichnet sich als traditionelle Linke. Ihr politischer Kompass: Der Universalismus. Die Überzeugung, dass Rechte für alle Menschen gleichermaßen gelten. Die sogenannte woke Linke habe diese Einsicht über Bord geworfen:
Mich beschäftigt (…) , warum sich sogenannte linke Stimmen der Gegenwart von philosophischen Ideen verabschiedet haben, die für den linken Standpunkt von zentraler Bedeutung sind: ein Bekenntnis zum Universalismus statt zum Stammesdenken, eine klare Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Macht und die Überzeugung, dass Fortschritt möglich ist.
Susan Neiman wirft den woken Linken Partikularismus vor
Neiman wirft den woken Linken Partikularismus vor, also Werte nur für kleine Gruppen zu reklamieren, die wie indigene Stämme auf ihre jeweilige Identität pochten. Dieses von ihr so genannte Stammesdenken sei mit rechten Positionen verwandt. Der alte Universalismus der philosophischen Aufklärung gelte den Woken lediglich als Deckmantel europäischer Interessen:
Doch es ist fatal, zu vergessen, dass Denker wie Rousseau, Diderot und Kant die ersten waren, die den Eurozentrismus und den Kolonialismus verurteilten.
Text fällt hinter Komplexität von Adorno und Horkheimer zurück
In ihrer pauschalen Unterstellung, die woke Linke verachte die Aufklärung, fällt Neiman weit hinter die Komplexität von Autoren wie Adorno und Horkheimer zurück, die schon vor 80 Jahren in der Dialektik der Aufklärung auf die Schattenseiten der Vernunft hinwiesen, ohne dabei die Vernunft über Bord zu werfen.
Insgesamt problematisch ist, dass Neiman versucht, eine Art Theorie-DNA zu identifizieren, aufgrund derer die Woken, ohne es zu bemerken, eigentlich rechte Gedanken vertreten. Daran ist sie krachend gescheitert. Schon allein deswegen, weil "woke" ein viel zu nebulöser und beliebiger Begriff geworden ist, um diesen wissenschaftlich zu analysieren.
Autorin vermischt deutsche und US-Debatten
Das beginnt schon bei den unterschiedlichen nationalen Diskursen - hier vermischt sie beispielsweise durchgängig deutsche und US-amerikanische Debatten. Neiman arbeitet sich seitenlang am französischen Macht-Theoretiker Michel Foucault ab, den sie als Urahn woken Denkens identifiziert. Sie wirft ihm vor, keine gesellschaftlichen Fortschritte erkennen zu wollen sondern immer nur eine Verfeinerung von Machtstrukturen.
Das sei der Grundsatz, der dazu geführt habe, dass die woke Bewegung heute nicht mehr für gesellschaftlichen Fortschritt streiten könne. Vollends ärgerlich ist ihr Versuch, eine theoretische Verwandtschaft zwischen Foucault und dem NS-Juristen Carl Schmitt herbeizuschreiben:
Gemeinsam war ihnen die Verachtung der Idee einer universalen Menschheit und der Unterscheidung zwischen Macht und Gerechtigkeit sowie eine tiefsitzende Skepsis gegenüber einem jeglichen Fortschrittsdenken.
Absurder Vergleich
Der Vergleich zwischen Michel Foucault und rechten Denkern wie Carl Schmitt oder auch Martin Heidegger drängt sich vorsichtig gesprochen nicht auf. Klarer gesagt: Er ist absurd. Allein schon deswegen, weil Carl Schmitt, ein nationalsozialistisch-biologisches Verständnis von Macht hochhielt und verteidigte, Foucault dagegen Machtstrukturen aus Sicht der Unterdrückten kritisierte.
In ihrem Versuch der woken Linken zu unterstellen, sie sei im Grunde rechts, zieht Susan Neiman auch die Evolutionsbiologie heran, die in kruden Aussagen wie jener vom egoistischen Gen, das angeblich unser soziales Handeln steuere, vor Jahrzehnten für Schlagzeilen sorgte.
Der Konstruktionsfehler von Neimans Streitschrift liegt darin, dass sie kulturelle Forderungen, Minderheiten die gleiche Anerkennung zu gewähren, wie der Mehrheitsgesellschaft, als biologische wertet. Sie unterstellt also der Linken einen Biologismus, den üblicherweise die Rechte hochhält. In ihrer Polemik wird Susan Neiman auch unfreiwillig komisch:
Als englische Muttersprachlerin weigere ich mich, die in Deutschland übliche und amtlich abgesegnete Äußerung zu akzeptieren, dass jeder, der Ausdrücke wie "Bürger und Bürgerinnen" ablehnt, ein unverbesserlicher Sexist ist.
Haltung, die lieber unterstellt, als zu analysieren
Dass es in Deutschland "amtlich abgesegnet" sei, als Sexist zu gelten, wenn man nicht "Bürgerinnen und Bürger" sage, gehört in den Bereich Fake-News und AfD-Sprech. Man kann angesichts manch "woker" Einlassung selbstverständlich mit Gründen skeptisch sein, aber das sind politische Fragen, die immer im konkreten Einzelfall entschieden werden müssen und keine philosophischen. Neimans Text ist innerhalb einer erregten Dauerdebatte selbst ein weiteres Beispiel für eine kulturkämpferische Haltung, die lieber etwas unterstellt als analysiert.
Links ist nicht woke
- Genre:
- Sachbuch
- Zusatzinfo:
- übersetzt aus dem Englischen von Christiana Goldmann
- Verlag:
- Hanser Berlin
- Veröffentlichungsdatum:
- 2. September 2023
- Bestellnummer:
- ISBN: 9783446278028
- Preis:
- 22 €