Buchcover: Charlotte Berend-Corinth © Hirmer Verlag

Lesenswerter Bildband über die Künstlerin Charlotte Berend-Corinth

Stand: 04.06.2022 06:00 Uhr

Im Himer Verlag ist ein Bildband über die Künstlerin und Künstlergattin Charlotte Berend-Corinth erschienen, die alles andere war als ein Heimchen am Herd.

von Silke Lahmann-Lammert

Älterer Künstler heiratet blutjunge Studentin: In der Geschichte der Bildenden Kunst ist das ein Klassiker. Und nur allzu oft endet die Amour fou damit, dass die Studentin ihre künstlerischen Ambitionen aufgibt und - als Hausfrau und Mutter - dem "Genius" an ihrer Seite den Rücken freihält. Die Beziehung zwischen Lovis Corinth und Charlotte Berend passt genau in dieses Schema. 1901, als der Maler seine Schülerin heiratete, war die Braut 21. Und damit nicht einmal halb so alt wie ihr 43-jähriger Bräutigam. Während sein Name in die Kunstgeschichte einging, geriet ihrer in Vergessenheit. Aber es lohnt sich genauer hinzuschauen.

Gebärende Frau im Ausnahmezustand

Eine Frau malt sich selbst. Halbnackt, mit gerundetem Babybauch: Das Bild von Paula Modersohn-Becker aus dem Jahr 1906 ist als erstes Selbstporträt einer Schwangeren in die Kunstgeschichte eingegangen.

Völlig unbekannt dagegen blieb ein weitaus radikaleres Werk, das Charlotte Berend-Corinth nur zwei Jahre später schuf. Lebensgroß und im Querformat stellt die Malerin sich als Gebärende dar. Eine Frau im Ausnahmezustand: Bauch und Brüste sind entblößt, jeder Muskel angespannt, das Gesicht vor Schmerzen verzerrt. 

Bemerkenswert ist nicht nur die ungeschönte Darstellung des körperlichen Kraftakts, sondern auch die Komposition des Gemäldes: Die weibliche Figur knüpft an den klassischen Topos der "nackten Frau auf dem Diwan" an. Anders als die hingestreckten Schönheiten von Tizian, Goya oder Manet macht Berend-Corinths Protagonistin aber keinerlei Anstalten, dem männlichen Betrachter zu gefallen. Ihr Körper wirkt "weder sexualisiert noch erotisch aufgeladen. Vielmehr erscheint ihre starke körperliche Präsenz wie eine Kraft, die der Frau Macht verleiht - eine Macht, die sie dazu in die Lage versetzt, Leben hervorzubringen", beschreibt Buchautorin Andrea Jahn das Gemälde, das zum ersten Mal 1908 in der Berliner Secession zu sehen war.

Charlotte Berend-Corinth: Malergattin und die Muse

"[Ein] gut gemaltes, wie schlecht erdachtes naturalistisches Kraftstück", urteilt ein Kunstkritiker. Ein anderer beschwert sich, dass das Bild "trotz unleugbaren künstlerischen Qualitäten doch durch das naturalistisch Unverhüllte der Szene einen reinen Genuss nicht aufkommmen lässt". Ein dritter spricht sogar von einem Gemälde "mit widerlichem Beigeschmack".

Die Reaktionen zeigen, dass die Malerin einen Nerv trifft: Frauen existieren im Kunstkosmos der Jahrhundertwende nur als Musen oder passive Modelle. Der Platz der aktiven Künstlerin ist für sie nicht vorgesehen. Doch Charlotte Berend-Corinth gelingt der Spagat, beide Rollen zu erfüllen: Sie ist Malergattin und die Muse, das Aktmodell von Lovis Corinth. Aber auch die Künstlerin, die ihre eigene Karriere im Blick behält. In ihr Tagebuch schreibt sie: "Ich will alles malen, was ich will und wie ich es will."

Thematische Bilder am Puls der Zeit

Als eine der ersten Frauen wird sie in die Berliner Secession aufgenommen, später wählen die Mitglieder der Künstlervereinigung Charlotte Berend-Corinth sogar in den Vorstand.

Mit ihrem spätimpressionistischen Pinselstrich ist ihr Malstil eher konventionell. Aber thematisch sind die Bilder immer am Puls der Zeit. Zu ihren schillerndsten Arbeiten zählen die Porträts von Prominenten und Politikern der Weimarer Republik. Darunter Bildnisse von dem Schauspieler Max Pallenberg, der Tänzerin Valeska Gert oder Kulturminister Adolf Grimme.

In Vergessenheit geratene Künstlerin

Trotz der Erfolge, trotz zahlloser Ausstellungen von Charlotte Berend-Corinth im In- und Ausland kennt heute kaum noch jemand ihren Namen. Wegen ihrer jüdischen Herkunft trieben die Nationalsozialisten die Künstlerin nicht nur ins Exil, sie löschten auch die Erinnerung an ihr Werk und ihre Lebensgeschichte aus.

Auch deshalb ist der neue Bildband so lesenswert: Das Buch gibt der Malerin und historischen Figur Charlotte Berend-Corinth den Platz in der Kunstgeschichte zurück, den sie verdient hat.

Charlotte Berend-Corinth

von
Seitenzahl:
192 Seiten
Genre:
Bildband
Zusatzinfo:
100 Abbildungen in Farbe
Verlag:
Hirmer
Bestellnummer:
978-3-7774-3939-6
Preis:
29,90 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 05.06.2022 | 16:20 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Bildbände

Ein Bücherstapel liegt auf einem Holztisch vor einer farbigen Wand. © IMAGO / Shotshop

Bücher 2022: Die spannendsten Romane und Erzählungen

Viele aufregende Bücher sind im Jahr 2022 erschienen. Etwa von Yasmina Reza, Ralf Rothmann, Isabel Allende, Kim de l’Horizon und Markus Orths. mehr

Ein Latte Macchiato, eine Brille und eine Kerze liegen auf einem Buch © picture alliance / Zoonar | Oleksandr Latkun

Neue Bücher 2024: Die interessantesten Neuerscheinungen

Unter anderem gibt es Neues von Martina Hefter, Frank Schätzing, Markus Thielemann, Isabel Bogdan oder Lucy Fricke. mehr

Logo vom NDR Kultur Podcast "eat.READ.sleep" © NDR Foto: Sinje Hasheider

eat.READ.sleep. Bücher für dich

Lieblingsbücher, Neuerscheinungen, Bestseller – wir geben Tipps und Orientierung. Außerdem: Interviews mit Büchermenschen, Fun Facts und eine literarische Vorspeise. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur sucht Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Hände halten ein Smartphone auf dem der News-Channel von NDR Kultur zusehen ist © NDR.de

WhatsApp-Channel von NDR Kultur: So funktioniert's

Die Kultur Top-News aus Norddeutschland direkt aufs Smartphone: NDR Kultur ist bei WhatsApp mit einem eigenen Kanal aktiv. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Lars Eidinger © IMAGO / Eventpress

Lars Eidinger zu Kürzungen in der Kultur: "Existenzbedrohlich"

Entweder könne man nicht Neues mehr produzieren oder müsse im großen Rahmen Mitarbeitende entlassen, mahnt Schauspieler Lars Eidinger zu den Sparplänen des Berliner Senats. mehr

Eine Hand hält ein Smartphone mit dem News-Spiel "NDR Wohn-O-Mat" vor einer norddeutschen Landschaft mit Schafen und Leuchtturm © Fotolia, PantherMedia Foto: JFL Photography, Peopleimages

NDR Wohn-O-Mat: Welcher Wohnort im Norden passt zu dir?