Startendes Flugzeug über Wohnhaus © picture alliance Foto: Horst Ossinger
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AUDIO: Interview Jürgen Hasse Das Geräusch der Stadt (30 Min)

"Vitaltöne" und "Schallgesichter" - Geräusche und Lärm in der Stadt

Stand: 26.04.2023 00:01 Uhr

Flugzeuge, die übers Haus starten, müssen nicht immer eine Lärmbelästigung sein, sagt Stadtforscher Jürgen Hasse. Während Lautstärken exakt gemessen werden können, sind die individuellen Erscheinungsformen und Wirkungen von Klängen und Geräuschen in den Metropolen nur wenig erforscht.

von Lornz Lorenzen

In seinem im Sommer 2022 erschienen Buch "Geräusch der Stadt - Phänomenologie des Lauten und Leisen" geht der Wissenschaftler Jürgen Hasse akustischen Sinnesempfindungen nach. Kulturreporter Lornz Lorenzen hat zum Tag des Lärms mit ihm gesprochen. Seiner Ansicht nach können Städte einen "Vitalton" haben und sogar verschiedene "Schallgesichter", die in unserer vom Visuellen beherrschten Kultur leicht überhört werden.

Herr Hasse, vom "Tag des Lärms" hin zu lauten und leisen Erscheinungsformen von Geräuschen in der Stadt, womit sie sich als Geograph und Stadtforscher beschäftigen, ist es ja vielleicht gar nicht mal so ein ganz weiter Weg, oder?

Stadtforscher Jürgen Hasse steht auf einem Weg im Wohngebiet vor modernen mehrgeschossigen Neubeuten. Er trägt Mantel und Schal. © Lornz Lorenzen Foto: Lornz Lorenzen
Prof. Jürgen Hasse ist Geograph, Stadtforscher und Phänomenologe. Er lehrt in Frankfurt am Main und in Emden.

Jürgen Hasse: In der Tat ist die Verbindung relativ nahe, weil ich denke, dass die Frage nach der Qualität von "Lärm" und nach der Qualität von "Geräusch" insofern dicht beieinander liegen, weil es ja doch ganz wesentlich von der persönlichen Beziehung zu etwas lautlichem oder auditivem abhängig ist. Ob ich etwas als störend also als Lärm empfinde, oder ob es für mich eher ein unbedenkliches, geradezu behagliches Umgebungsgeräusch ist. Also Flugzeuge, die übers Haus starten, würde ich nicht immer als Lärm erleben, sondern durchaus auch als ein Ausdruck von großstädtischer Urbanität

Irgendwann sind es dann einfach zu viele Dezibel und dann ist es Lärm? So einfach ist es nicht, oder ?

Jürgen Hasse: Wir kennen das Problem in seiner ganzen politischen Dimension in der Diskussion um die Zulässigkeit von Windkraftanlagen. Die machen Geräusche, und diese Geräusche sind laut geltenden Normen akzeptabel, also genehmigungsfähig. Tatsächlich kann aber trotzdem auch ein solches Geräusch zu einer spürbaren Beeinträchtigung des subjektiven Wohlergehens führen, weil eben die Lautstärke allein nicht endgültig darüber etwas sagt, wie ein Geräusch empfunden wird: als angenehm, unangenehm, oder beunruhigend. Denken wir an diesen steten Tropfen, der aus dem Wasserhahn fällt. Das ist ein leises Geräusch. Aber die Konstanz und die ewige Wiederkehr desselben macht dieses Geräusch zur etwas martialischem, das uns beeinträchtigt, stört, aber Lärm ist das in dem Sinne überhaupt nicht.

Also der Begriff "Lärm" ist mit dem italienischen Wort "all'arme!" verwandt, also Alarm und bedeutet als militärischer Weckruf auch "Zu den Waffen!". Da ist ja wirklich etwas Eskalierendes drin. Jeder kennt das. Zum Beispiel den Krach im Straßenverkehr? Wo ist der Punkt, an dem es kippt, man den Lärm einfach nicht mehr erträgt?

Jemand hält eine Hand hinter sein Ohr um besser zu hören. © fotolia.com Foto: BillionPhotos
"Wie Geräusche erlebt werden, wird ganz wesentlich durch den kultur- und technikhistorischen Wandel bestimmt", sagt Jürgen Hasse.

Jürgen Hasse: Ich denke, dass es ganz wesentlich von der Erlebnisweise des Individuums abhängt. Es ist nur eine individuelle, sondern auch eine kollektive Angelegenheit, das heißt, wie Geräusche erlebt werden, wird ganz wesentlich durch den kultur- und technikhistorischen Wandel bestimmt. Wenn wir die gegenwärtige Lärmsituation des städtischen Verkehrs mit der Verkehrssituation um 1900 vergleichen, wo Pferde, Pferdegespanne und Kutschen mit eisenbereiften Holzrädern über das Kopfsteinpflaster ratterten, muss das ein höllischer Lärm gewesen sein. Im Vergleich zu dem relativ leisen Geräuschteppich moderner Fahrzeuge, wo das Rollgeräusch der Reifen auf dem Pflaster bald lauter ist als das Motorengeräusch.

Also sie meinen, wenn ich mich jetzt als Fußgänger durch die Innenstadt von Hamburg oder Berlin bewege, soll ich mich nicht so anstellen, meine Ohren sind einfach nur empfindlicher geworden?

Jürgen Hasse: Das das kann man schwer vergleichen, weil wir diese Situation früher ja nicht erlebt haben. Wir kennen nur die Jetztzeit und den Wandel innerhalb unsere eigenen biografischen Erlebnisperspektive.

Welche Strategie schlagen sie denn Menschen vor, die besonders empfindliche bzw. empfindsame Ohren haben? Kann man das Ohr trainieren, an den Krach gewöhnen?

Jürgen Hasse: Also es gibt, glaube ich, zwei Bereiche, die bei jeder Form des Erlebens von Geräuschen ineinandergreifen. Das eine ist die sinnliche Dimension. Also was kommt lautlich, auditiv auf mich zu? Was berührt mich als Schall? Und das andere ist natürlich die Interpretation dessen, was auf das Trommelfell trifft. Ich weiß, um ein Beispiel zu nennen, dass alle Familien mit Kindern, die in meiner unmittelbaren Nachbarschaft wohnen, eine Geräuschquelle sind. Anders als Rentner, die ruhig vor sich hin wohnen. Da kann ich dann versuchen, eine Beziehung dazu zu finden. Aber ich würde niemandem aufoktroyieren wollen, in bestimmter Weise mit einer bestimmten Klangkulisse fertig werden zu müssen. Wenn es nicht gelingt, wenn der Störeindruck mächtiger, nachhaltiger ist, da muss man letzten Endes die Konsequenzen ziehen und sich eine andere Umgebung suchen, wo man sich auditiv wohler fühlt.

Oder man hofft, dass Ohropax-Stöpsel den "Ohrenfrieden“ bringen. Das Thema "Lärm“ ist nun ja aber auch nur ein Aspekt unter vielen in ihrem Buch zum "Geräusch der Stadt - Phänomenologie des Lauten und Leisen“. Worum es Ihnen auf jeden Fall auch geht, ist, dass (Hin)hören zu schulen. Offenbar gibt es da großen Nachholbedarf ...

Nahverkehrszug rollt über Bahnschienen. Fahradfahrer warten vor geschlossener Schranke. Der Zug ist in Bewegung, deshalb ist er im Foto leicht unscharf zu erkennen. © Lornz Lorenzen Foto: Lornz Lorenzen
"Vor dem Hintergrund dieser beinahe anästhesierenden lautlichen Halb-Leere nähert sich ein Regionalzug - als wollte er damit drohen, in diese Ruhe regelrecht hineinzufahren." (Jürgen Hasse: "Das Geräusch der Stadt", Seite 39)

Jürgen Hasse: Wir leben ja auf dem Hintergrund einer Zivilisationsgeschichte, die uns eine bestimmte Form der Wahrnehmung beigebracht hat oder hinterlassen hat, als Spur der Menschwerdung gewissermaßen. Und dazu gehört es ganz wesentlich, dass wir in erster Linie sehen und das Gesehene sehr wahrnehmen. Und in zweiter Linie nehmen wir aber auch das Gehörte als gesprochenes Wort sehr wahr. Das sind zwei Magistralen der Wahrnehmung, die uns lenken, in unserem Selbst und Weltverständnis. Und dann gibt es aber eben diese andere Qualität des Auditiven. Das sind die Geräusche, die wir als Hintergrundkulisse wahrnehmen. Die werden so runtergedimmt vom Verstand. Die Geräusche werden in der Regel nur dann einem Thema, wenn sie als Problem oder wenn sie vun uns als besonders angenehm empfunden werden. Die ganze Musik ist dazu da uns in angenehme Stimmung zu versetzen.

Sie machen etwas, was Wissenschaftler eigentlich sehr selten machen, nämlich Selbstversuche. Dies sind ja etwas verpönt. Sie haben in ihrem Buch verschiedene akustische Situationen in der Stadt aufgesucht, um genau das zu tun, nämlich genau hinzuhören. Welche Erfahrungen haben Sie da gemacht? Sie haben beispielsweise im Café gesessen, eigentlich eine recht harmlose Situation, sollte man meinen, aber nicht vom akustischen her. Da heißt es in ihrer Geräuschbeschreibung: "... plötzlich wird ein anderes Geräusch dominant und stört geradezu die Mannigfaltigkeit all der gleichzeitig ablaufenden Audiogramme: das rauschende Krachen, das beim Zerbeißen eines frischen Kekses in meinem Kopf entsteht". Was passiert da?

Jürgen Hasse: Das sind in der Tat, in der Wissenschaft nicht gerade übliche Methoden. Aber in der Phänomenologie, die sich mit der Wahrnehmung und der emotionalen Verwicklung in Situationen der Wahrnehmung befasst, ist es sehr wichtig, sich sehr genau darüber klarzuwerden, was wirkt eindrücklich auf mich ein? Und da komme ich wesentlich weiter, wenn ich mich auch der Mühe aussetze, konkret aufzuschreiben, was um mich herum geschieht oder was mit mir geschieht. Durch meine Selbst-"Aussetzung" an einem öffentlichen Platz, an einem vorbeifahrenden Zug auf einem Platz in einem Kaufhaus, wo auch immer. Und da muss man anfangen, dieses alles sehr genau zu beschreiben.

Sie haben noch ein weiteres Beispiel aufgeführt, und zwar sind Sie in der Kunsthalle in Emden gewesen und haben einfach nur hingehört. Ist das nicht eine völlig irre Vorstellung, im Museum zu sein und dabei die ausgestellten Bilder auszuklammern?

weitwinklinge Innenaufnahme von der Kunsthalle Emden mit vielen BesucherInnen, die sich Bilder ansehen © Kunsthalle emden Foto: Kunsthalle Emden
Wie hört sich eigentlich ein Raum an, in dem man nichts macht, außer sich Bilder anzugucken?

Jürgen Hasse: Ja, eine Situation in einem Museum ist in aller Regel dadurch geprägt, dass sie leise ist. Das Museum ist ein Augen- und Schauraum, also ist das Gehör, nicht besonders herausgefordert. Und ich habe die Perspektive herumgedreht und habe mich gefragt, wie hört sich eigentlich so ein Raum an, in dem die Leute hauptsächlich gucken und nichts anderes machen? Und dann kommen ganz komische Eindrücke in den Fokus. Das sind nämlich Schritte, Schrittbewegungen, und die erscheinen dann, wenn man sich darauf einlässt und diese versucht zu beschreiben. Dann kommt eine unglaubliche Vielfalt von Bewegungsgeräuschen zutage. Da gibt es schleifende Geräusche, knarrende, quietschende. Dann hört man förmlich, dass ein paar Sandkörner unter den Ledersohlen knirschen.

Und wenn so ein Mensch, der dort Besucher ist, still vor einem Bild verweilt, oder sich ihm in einer bestimmten Art und Weise nähert, oder sich entfernt, ist damit rein akustisch ja auch schon etwas ausgesagt.

Jürgen Hasse: Ja, das sind performative Muster der Lautlichkeit gewesen, die sich mir dargestellt haben, also Muster, die man nicht sehen kann, die aber zur Wirklichkeit dieses Raumes und dieser Situation in einem Museum ganz wesentlich dazugehören. Was man dann auch merkt, das ist die unterschiedliche Art des Gehens von Menschen, die die Kunst betrachten. Und auf der anderen Seite der Aufseher, die im Museum hin und her gehen, gucken, ob alles in geordneten Bahnen verläuft. Und diese Gangart ist ganz anders. Die ist leise, natürlich auch zielorientiert. Man kann da den Unterschied zwischen dem Gehen "durch“ und dem Gehen "im“ Raum hören.

Also bei der Hinwendung zum Akustischen darf man das Sprachliche nicht vergessen. Die Mehrzahl an Metaphern, die wir im allgemeinen Sprachgebrauch verwenden, orientiert sich am Visuellen. Deswegen ist ihr Buch auch der Versuch, dem Nachdenken über Geräusche eine Sprache zu geben? Also sie sprechen an einer Stelle, vom "Vitalton" der Stadt. Was ist damit gemeint? Sie haben auch in Hamburg gelehrt.

Jürgen Hasse: Ja, ich war sieben Jahre in Hamburg, das ist schon lange her. Aber dennoch ist mir eine lautliche Erinnerung sehr lebendig geblieben. Das sind die schweren, dumpfen und zugleich mächtigen Töne der Nebelhörner der großen Schiffe, die also vom Hafen her durch die ganze Stadt zu hören waren. Das war für mich ein lautlicher Eindruck, den ich sehr stark mit Hafenstädten verbinden würde.

Sie sprechen an anderer Stelle von verschiedenen "Schallgesichtern“ der Stadt.

Im Binnenhafen von Emden ist bei sonnigem Wetter das rote Feuerschiff Amrumbank zu sehen. Die Wasseroberfläche kräuselt sich wegen des starken Windes. © Lornz Lorenzen Foto: Lornz Lorenzen
Weder Auto- noch Hafengeräusche waren in Emden zu hören, als diese Aufnahme gemacht wurde. Der starke Wind, der am Ohr des Fotografen vorbeiwehte, übertönte alle anderen Geräuschquellen.

Jürgen Hasse: Ja, man kann von einem charakteristischen Schallgesicht einer Stadt sprechen, insofern es sich, angefangen beim morgendlichen Pendelverkehr über den Tag verändert und in seiner lautlichen Lebendigkeit immer wieder anders zeigt. Also eigentlich handelt es sich um eine Kombination von Geräuschen unterschiedlichster Art, die sich dann zu einem Akkord wieder zusammenfinden und die dann auch eben bestimmte Erlebnisweisen wachrufen. Das war eben die Frage, wie kommt das eigentlich mit diesen Metaphern zusammen? In der Literatur spielt die Metapher eine wichtige Rolle. Sie taucht immer dann auf, wenn etwas ausgesagt werden soll, was eigentlich mit der Alltagssprache nicht so leicht zu fassen ist. Also die Metapher ist ein Behälter für komplexe Eindrücke. Und man versucht natürlich auch diese Eindrucksvielfalt in adjektivischen Beschreibungen zu fassen. Also es gibt eben nicht nur, wenn man mal vom Lärm weg geht, die "Stille“, sondern es gibt auch die beruhigende Stille. Es gibt aber auch die lähmende Stille. Es gibt die angespannte Stille, und man könnte das immer weiterführen.

Wie sind Sie denn überhaupt auf dieses Thema gestoßen? Wie kam Ihnen das Geräusch in den Sinn?

Jürgen Hasse: Ich habe sehr viele atmosphärische Studien gemacht und dabei haben immer auch Geräusche eine Rolle gespielt. Ein Geräusch ist ja im Grunde schon ein Wort, das zwischen Singular und Plural steht. Die Vorsilbe "Ge“ weist darauf hin, dass etwas zusammenwirkt und eine Vermischung stattfindet. Also eine Vermischung setzt immer voraus, dass es mehrere oder vieles gibt. Und das ist ja beim Geräusch der Fall. Da kommt man dann eben irgendwann auch auf den Punkt, dass man sagt, was ist denn eigentlich mit der Lautlichkeit? Und ich sage absichtlich lautlich und nicht akustisch, weil das Akustische sich (nur) auf das Physikalische bezieht.

Da sind wir wieder bei dem vorhin von Ihnen angesprochenen Beispiel der Messbarkeit von Schallemissionen bei Windrädern?

Jürgen Hasse: Ja, und das andere ist eben die Lautlichkeit. Die hat mit Messbarkeit nichts zu tun, sondern mit Erlebbarkeit. Da merkt man eben auch, dass Geräusche eine ganz andere Qualität haben als Gegenstände. Ob eine Laterne in der Stadt, ein Mülleimer, ein Automobil oder was auch immer. Das sind fixe, materielle Gegenstände, und ein Geräusch hat eine ganz andere Qualität. Es hat mit den Worten des Kieler Phänomenologen Hermann Schmitz gesagt, den Charakter eines "Halbdings“. Halbdinge unterscheiden sich von Dingen unter anderem dadurch, "dass sie verschwinden und wiederkommen, ohne dass es Sinn hat, zu fragen, wo sie in der Zwischenzeit gewesen sind". Der Wind weht, und er hört aber auch auf zu wehen, also unterbricht seine Dauer, und eben das ist das charakteristische für Halbdinge. Und dazu gehört ganz sicher auch der Klang des vorbeifahrenden Zuges. Auch Gefühle sind Halbdinge, zum Beispiel Freude und Trauer. Und diese Dinge sind sehr wichtig für das Zustandekommen von Atmosphären.

Wenn es ein Halbding ist, gehört da ja immer noch ein Zweites dazu, das dann eine räumliche Ausdehnung hat.

Jürgen Hasse: Ja natürlich, das sind die Quellbereiche, aus denen etwas lautliches kommt. Beim Zug oder Bagger ist das einfach erklärt. Das Geräusch des Windes kommt, sehr viel komplizierter und komplexer, aus klimatologischen Prozessen des Luftaustausches, ist aber auch letzten Endes physikalisch erklärbar. Aber das ist eine andere Dimension von Realität. Es ist so, dass wir es bei dem Erleben von lautlichen Phänomenen mit Wirklichkeit zu tun haben und nicht mit Realität. Das sind zwei komplementäre Dinge, die zusammengehören, aber doch zwei Seiten einer Medaille bilden. Geräusche berühren einen ja auch sehr viel stärker als mancher visuelle Eindruck. Insgesamt kann man feststellen, dass sich die Geräusche im Laufe der Technikgeschichte sehr stark verändert haben. Wenn Sie dieses Beispiel der Autogeräusche nehmen, dann erinnere ich mich, dass ich als Kind aus dem Bett heraus bei offenem Fenster meinen Eltern genau sagen konnte, ob da ein Opel, ein Mercedes oder ein Ford vorbeifährt.

Ja, das gelingt uns heute nicht mehr so leicht. Die Aerodynamik gibt bei den moderneren Fahrzeugen den (Einheits)Klang vor. Noch einmal zum grundsätzlichen Verhältnis "akustisch" versus "visuell": Der Komponist Karl-Heinz Stockhausen hat einmal gesagt: "Wir sind keine akustischen Menschen mehr, wir sind im Grunde genommen taub. Unser Wahrheitsbegriff basiert nur auf der Wahrnehmung der Augen“. Also metaphorisch gesprochen. Man sollte das Hören aus dem Schattendasein holen.

Jürgen Hasse: Ja, das ist genau der Punkt, den ich vorher angesprochen habe, die Zivilisationshistorische Prägung unserer Aufmerksamkeit zugunsten dessen, was wir sehen können. Das Auge ist der erste Sinn.

Welche Geräusche empfinden Sie als eher abstoßend im Bereich des Urbanen?

Stadtforscher Jürgen Hasse im Portrait. Im Hintergrund ist unscharf ein Bücherregal zu erkennen. © Lornz Lorenzen Foto: Lornz Lorenzen
Das Interview fand im schallisolierten Arbeitszimmer statt. Beim Öffnen des Bürofensters drangen Wind und leises Möwengeschrei in den Innenraum. Gelegentlich war ein leises Knarzen des Stuhles zu hören.

Jürgen Hasse: Die Todesschreie von Tieren, die beim Schlachter ihr Leben lassen, das kann man mitunter in Städten am Rande dort hören. Zumindest erinnere ich mich, das gehört zu haben. Diese Geräusche sind heutzutage weitgehend in die Schlachthöfe verbannt, durch hohe Mauern und durch das Gebäude gewissermaßen dem lautlichen Empfinden entzogen, damit sich kein ethischer Widerspruch erhebt und den Konsum dämmt.

Und jetzt vielleicht noch zu einem Punkt, der ganz wichtig ist. Das in-die-Situation-hinein-hören verhilft demjenigen, der eben genauer hinhört, zu mehr Präsenz.

Jürgen Hasse: Ja, Präsenz ist sicherlich ein treffendes Wort in diesem Zusammenhang, weil in der Tat das pointierte hinhören wollen auch dazu führt, dass man in ganz anderer Weise sich in eine Umgebung hineinplatziert und sich nicht nur körperlich, sondern auch leiblich in seiner ganzen Befindlichkeit, in seiner ganzen Aufmerksamkeit in eine Umgebung einbettet, um durch gesteigerte, zugespitzte Präsenz sehr viel mehr zu bemerken. Gerhard Schmitz hat mal gesagt, ein Ziel der Phänomenologie besteht darin, zu merken, was merklich ist. Es geht darum herauszuhören, was man heraushören könnte.

Meinen sie so etwas wie "Achtsamkeit“?

Jürgen Hasse: Ich benutze lieber das Wort der Aufmerksamkeit, als dass der Achtsamkeit, welches stark esoterisch überschrieben ist. Dass mehr Hören können führt in gewisser Weise zu einem mehr denken können. Ob ich das dann auch tue, ist ein zweite Frage. Aber das Wahrnehmen mit den Sinnen und das Denken über das Wahrgenommene, bildet einen sehr interessanten Kreislauf, der uns weiterbringt in unserem Bewusstsein.

Da fällt mir neben dem Hinhören noch der Begriff des "Lauschens“ ein.

Jürgen Hasse: Ja, hinhören auf die leisesten Töne, Nuancen, die die man eigentlich gar nicht als Geräusch bezeichnen kann. Die werden uns gerade dann deutlich, wenn Stille sich um uns ausbreitet. Die Stille hat eine besondere, atmosphärische Qualität. Das Wenige, was sich dann durchsetzt wird uns dann besonders eindrücklich vor eben diesem Hintergrund. Sie kennen dieses Geräusch des Hundes, der in die nächtliche Stille hineinbellt, und der eine ganz andere atmosphärische Mächtigkeit bekommt, als wenn er im täglichen allerlei der Geräusche kläffen würde.

Also, ich höre auch in der Stadt gelegentlich dieses diesen hohen Ton, das schrilles Rufen, eines Raubvogels.

Jürgen Hasse: Vielleicht sind es gerade diese bisher ungewohnten Geräusche von Tieren, die uns darauf aufmerksam machen, wie wichtig Tiere für unsere ganze menschliche Existenz sind. In Frankfurt jedenfalls war das erkennbar nach Corona. Nach dieser Stilllegung des städtischen Lebens tauchten plötzlich in der Innenstadt Bussarde auf, die gab es vorher nicht, und die sind jetzt immer noch da. Und da hört man dann diesen charakteristischen Schrei, diese hohen Töne, die der Bussard von sich gibt. Das archaische Naturgeräusch legt sich von oben herab über die artifiziellen urbanen Geräusche der Stadt, ein Anachronismus.

"Das Geräusch der Stadt. Phänomenologie des Lauten und Leisen“ ist nicht nur ein Buch für Experten, die etwas über die Phänomenologie wissen wollen, sondern ist tatsächlich auch eine Anregung für Menschen, die sich einfach dafür interessieren die klangliche Wirklichkeit der Stadt für sich näher zu entdecken. Es ermutigt auch dazu, genauer hinzuhören.

Jürgen Hasse: In der Tat. Es ist eine Aufforderung für einen jeden, sich der klanglichen Welt auszusetzen, sich bewusst in sie einzubetten und dem Versuch nachzuspüren, genauer zu sagen, was in der eigenen Umgebung zu hören ist.

Herr Hasse, vielen Dank für das Interview.

Jürgen Hasse: Ich danke auch.

Das Interview führte Lornz Lorenzen, Redakteur NDR 1 Welle Nord.

 

Jürgen Hasse
Das Geräusch der Stadt: Phänomenologie des Lauten und Leisen
Verlag Karl Alber/Nomos Verlagsgesellschaft, 2022
ISBN: 978-3495492703
240 Seiten
Preis: 39 Euro

Weitere Informationen zum Tag des Lärms: Start: www.tag-gegen-laerm.de/start.

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Moin! Schleswig-Holstein – Von Binnenland und Waterkant | 26.04.2023 | 19:30 Uhr

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