"Kommst Du mit in den Alltag?": Das wenig schillernde Leben von Musikern
Wer hinter den Kulissen arbeitet, weiß, dass der Alltag vieler Musikerinnen und Musikern oft alles andere als schillernd ist. Andre Jegodkas Interview-Band "Kommst Du mit in den Alltag?" gibt einen Einblick in ihr Leben.
"Ich war zwei Jahre fest an der Kasse vom Marktkauf (...) Ich habe Post ausgefahren. Ich habe natürlich gekellnert, wie alle. Ich war Babysitterin. Ich habe also eine Menge Scheißjobs gemacht." Leseprobe
...erzählt die deutsch-britische Sängerin und Komponistin Christin Nichols.
"Ich habe auch mal für die Tabakindustrie gearbeitet, für die Zigarettenlobby (...). Als ich noch in Hamburg war, sind wir immer losgezogen und haben am Wochenende in wirklich sehr schlecht sitzenden weißen Anzügen in Einkaufszentren in Hamburg-Stellingen die Leute gefragt: 'Hallo rauchen Sie? (...) Wollen Sie eine kaufen?' (...) Da gab es glaube ich 90 Euro am Tag und es war tierisch viel Geld." Leseprobe
Christin Nichols lebt heute in Berlin und arbeitet neben der Musik als Schauspielerin. Mit ihren Rollen zum Beispiel in der ARD-Serie "All you need" oder der ZDF Dramedy "Watch me" hat sie es von den roten in die schwarzen Zahlen geschafft. Wie sie ihre neuen "Wohlstand" genießt?:
"Ich zahle meine Miete. Ich habe auch eine private Rentenversicherung abgeschlossen, weil ich denke, ich bin 35, vielleicht sollte ich das machen. In meinem Rentenbescheid, der neulich kam, stand, dass ich 212 Euro kriege." Leseprobe
Leben am Existenzminimum und mit Konkurrenzdruck
Die nüchternen Einblicke sind oft selbstironisch und humorvoll vorgetragen. Aber das Buch offenbart auch ernsthafte psychische Belastungen. Können wir das wirklich veröffentlichen? Das haben sich Herausgeber Andre Jegodka und sein Team an einigen Stellen gefragt, erzählt er: "Es gab auch schon Interviews, wo man mal auf die Stopptaste drücken musste, weil da Sachen wie Suizid und das Abrutschen der Existenz aufgetaucht sind."
Das Leben am Existenzminimum, der steigende Konkurrenzdruck auf Instagram und Tiktok und die direkte Vergleichbarkeit auf Streaming-Plattformen wie Spotify machen viele Künstlerinnen und Künstlern regelrecht fertig:
"Ich gehe dann auf die Seiten von den Bands, die ich am meisten hasse und schaue, wie viele Leute das hören und frage mich, warum das so viele sind. Es ist meine eigene Schuld. Ich weiß nicht, wie man das verhindern kann, wenn man psychisch so angeschlagen ist, dass vielleicht das Selbstwertgefühl im Moment nicht da ist, wo es sein sollte, sodass man sagt: Das tue ich mir jetzt nicht an und das mache ich jetzt nicht. Also ich finde, das ist fast wie eine Sucht." Leseprobe
Die Hamburgerin Daniela Reis zweifelt inzwischen daran, ob sie das Leben als Musikerin auf Dauer verkraften kann. Der Wandel des Pop-Geschäfts wird besonders deutlich durch die direkte Gegenüberstellung junger Musiker:innen wie Christin Nichols oder Daniela Reis mit "älteren Semestern" wie Peter Hein von der Band Fehlfarben oder Frank Spilker von der Hamburger Band Die Sterne. Zwischen den Zeilen schwingt viel "früher war alles besser" mit.
Kommerz: Das rote Tuch
Nicht ganz unberechtigt, meint Herausgeber Andre Jegodka: "In den 90er-Jahren gab es Vorschüsse. Da gab es Videoproduktionen, die wahnsinnig teuer waren, - und das hat sich natürlich alles verändert. Du musst heute, wenn du Musiker oder Musikerin bist, mehr hustlen und dir Wege überlegen, wie du dein Leben ökonomisch, sozial auf auf die Reihe kriegst."
Dass die Zeiten für Musikerinnen und Musiker auch in den 1980er-Jahren nicht nur rosig waren, zeigt sich unter anderem in einem Interview mit Annette Benjamin. 1960 in Hannover geboren, wurde sie dort mit ihrer Band Hans-A-Plast in den frühen 1980er-Jahren zu einer Größe in der Punk-Szene und zu einer Pionierin für Frauen im Musikbusiness.
"Die Einnahmen aus der Musik haben anfangs nicht zum Leben gereicht. Ich putzte in einer Kneipe. Dann brachte Hans-A-Plast die erste LP heraus. Sie hat sich unerwartet gut verkauft. Wir teilten das Geld auf und ungefähr zwei Jahre lang bekam ich ungefähr 1.000 D-Mark. Das war Reichtum, und ich war glücklich." Leseprobe
Auch hier: kein Leben in Saus und Braus - dennoch:
"Bei einigen Auftritten in Hannover sagten die Leute, wir seien scheißkommerziell und keine echten Punks. Wir hätten keine Street-Credibility." Leseprobe
Kommerz ist für die interviewten Musiker ein rotes Tuch. Die Abneigung gegen den Begriff Karriere ist zentrales Thema in nahezu allen Gesprächen. Es scheint nur ein entweder oder zu geben: Kunst oder Kommerz? Glaubwürdigkeit oder Karriere? Die Entscheidung hat auch Andre Jegodka eindeutig gefällt: "Mir ist es wichtig, dass ich mit Leuten zusammenarbeite, wo ich das Gefühl habe, dass da alles integer ist, man Respekt voreinander hat und man einfach ein guter Mensch ist. Wenn ich am Ende irgendwann sagen kann: Du hast mit den Leuten zusammen gearbeitet, mit denen du zusammen arbeiten wolltest, dann habe ich eine gute Karriere gehabt, ohne mein Gewissen verkauft zu haben."
"Kommst Du mit in den Alltag?": Ehrenrettung des Musikbusiness
Der Mythos des glamourösen Popstars oder wilden Rockmusikers wird im Buch ersetzt durch das Bild der integren Musikarbeiter. Auch als positives Gegengewicht. Das Musikbusiness genießt mitunter zweifelhaften Ruf - jüngst wieder befeuert durch die Debatte um Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt rund um die Band Rammstein.
Das Buch ist auch eine Art Ehrenrettung der Popmusik - und ein politisches Statement, erklärt Jegodka: "Wir haben gerade erst die Wahl gehabt. Wenn sich das Bild der Europawahl jetzt manifestieren würde, dann werden Fördergelder eingestampft und so eine Art von Kultur nicht mehr stattfinden, weil sie ökonomisch nicht mehr überleben könnte.
Kommst Du mit in den Alltag?
- Seitenzahl:
- 220 Seiten
- Genre:
- Sachbuch
- Verlag:
- Ventil
- Veröffentlichungsdatum:
- 14. Juni 2024
- Bestellnummer:
- 978-3-95575-188-3
- Preis:
- 18 €