"Ich ist der Andere": Eine autobiografisches Reisetagebuch
Für seinen Bildband ist Leo Fellinger an so schöne Orte wie Venedig, San Francisco oder in die Provence gereist. Dort hat er seine Eindrücke nicht nur mit der Kamera eingefangen, sondern auch zu Papier gebracht: in Briefen an sich selbst.
Ein früher Morgen in Venedig. Schon bald werden die Kreuzfahrtschiffe anlegen und endlose Ströme von Tagestouristen in die Stadt spucken. Noch ist der Markusplatz ruhig. Leer, bis auf einen Straßenfeger, der seinen Besen schwingt, und ein chinesisches Paar, das auf seine Trauung wartet. Der Bräutigam im topmodischen Zweiteiler, die Braut im weißen Spitzenkleid. Rund um ihre Schleppe picken Tauben Krümel aus den Ritzen zwischen den Steinplatten.
Venedig fernab der Touristenrouten
Lieber Brieffreund, wusstest du eigentlich, dass die Piazza San Marco (…) jeden Morgen mit einem einfachen Reisigbesen gekehrt wird? Dass Venedig beim Versinken leicht nach Osten kippt? Und dass auf einen Bürger Venedigs 600 Touristen kommen? Leseprobe
An diesem Morgen sei er um fünf Uhr aufgestanden, schreibt Leo Fellinger in einem Brief, den er später an sich selbst adressieren wird.
Mit seiner Kamera streift Fellinger durch die Gassen und fängt den morbiden Zauber der Lagunenstadt ein. Den fahlen Mond über einem Kanal - fernab der Touristenrouten. An den Häusern, die das Wasser säumen, bröckelt der Putz. Vor einem der wenigen Läden, die keinen Nippes, sondern Waren für Einheimische anbieten, fotografiert er einen Handkarren mit gefährlich hoch gestapelten Gemüsekisten. Auch als ihm ein alter Venezianer begegnet, der im Gehen seine Morgenzeitung liest, drückt er auf den Auslöser.
Melancholische Schwarz-Weiß-Bilder
Wer in dem Reisetagebuch blättert, wird schnell feststellen, dass Fellinger ein Romantiker ist. Anders als sein britischer Kollege Martin Parr, der in schrillen Farbaufnahmen die touristischen Exzesse seiner Landsleute fotografiert, verbannt der Österreicher alles Hässliche aus dem Blick. Seine melancholischen Schwarz-Weiß-Bilder beschwören ein Venedig, das noch nicht zur Selfie-Kulisse verkommen ist. Den Mythos einer Stadt, die ihre Schönheit nur in den frühen Morgenstunden zeigt, wenn kaum einer hinsieht.
Geschickt verwebt Fellinger Fotos mit Fakten und eigene Beobachtungen mit Zitaten von Reisenden aus früheren Zeiten: Lord Byron beklagte schon Anfang des 19. Jahrhunderts den Verfall der Lagunenstadt:
Verstummt sind in Venedig Tassos Lieder
Still rudert, ohne Sang, der Gondolier
Paläste bröckeln auf das Ufer nieder
Und selten tönt Musik durch das Revier
Die Zeit ist hin, doch weilt noch
Schönheit hier.
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Aufnahmen von tadelloser Ästhetik
Dabei ist Venedig nur einer von vielen Orten, die Fellinger in Fotos einfängt und in Briefen beschreibt: Island, Schweden und Marrokko gehören ebenso zu seinen Zielen wie San Francisco, die Normandie, die Nordseeinsel Sylt oder die toskanische Maremma. Wohin er auch reist, überall gelingen ihm Aufnahmen von tadelloser Ästhetik. Hinzu kommt, dass der Österreicher nicht nur mit der Kamera, sondern auch mit Worten umzugehen weiß. Farbig, fesselnd und lebendig schildert er, was ihm unterwegs widerfährt.
Das Ergebnis ist ein Coffee Table Book im besten Sinne. Ein Bildband, der sich so genussvoll herunterschlürfen lässt wie ein italienischer Espresso. Oder ein eiskalter Rosé an einem Sommerabend in der Provence.
Ich ist der Andere. Oder: Briefe an mich
- Seitenzahl:
- 207 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Zusatzinfo:
- Ein autobiografisches Reisetagebuch von Leo Fellinger, Format: 28,3 x 24 cm, mit s/w-Fotografien
- Verlag:
- Otto Müller
- Bestellnummer:
- 978-3-7013-1286-3
- Preis:
- 49,00 €