Franzobel über seinen neuen Roman "Hundert Wörter für Schnee"
Mit Ironie und teils groteskem Sprachwitz erzählt Franzobel in seinem neuen Historienroman "Hundert Wörter für Schnee" eine reale Antihelden-Saga, die heute ganz ähnlich stattfinden könnte.
In Franzobels "Hundert Wörter für Schnee" geht es unter anderem um den amerikanischen Ingenieur und Forscher Robert Peary. Der plante Ende des 19. Jahrhunderts zunächst den Vorläufer des heutigen Panama-Kanals und verhielt sich später beim Streben zum Pol in Grönland wie ein Kolonialherr. America first? "Am Ende weiß ich gar nicht mehr genau: Habe ich das erfunden oder habe ich das irgendwo gelesen? Ist das Fakt oder ist das einfach meine Fantasie?", so Franzobel.
Auf über 500 Seiten entfaltet Franzobel jetzt Robert Pearys jahrelanges, rücksichtsloses Streben zum Nordpol und das Schicksal des von ihm zusammen mit fünf weiteren Inuit in die USA verschleppten Minik. Ihn habe, sagt Franzobel, dessen "Zerrissenheit interessiert, diese Problematik der Migration, des Heimatlosen."
Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts hat Peary, wie einige andere Forscher und Abenteurer, versucht, den Nordpol zu erreichen. Er ist daran gescheitert, hat aber auf Grönland eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Inwiefern?
Franzobel: Er hat alles mitgenommen, was er irgendwie greifen konnte. Er hat Gräber geplündert, er hat die Artefakte von den Inuit mitgenommen und hat dann auch Menschen mitgenommen. Alles, wofür ihm Geld gegeben worden ist vom naturhistorischen Museum, das damals kurz zuvor neu gegründet worden ist. Die brauchten einfach Artefakte, und denen ist er ganz recht gekommen. Außerdem war Peary ein Mann des Präsidenten Roosevelt, der ihn auch massiv gefördert hat, weil es den Ruhm der Amerikaner - hat man gedacht - vermehren kann.
Er war ein sehr obsessiver Mensch. Er wollte unbedingt sehr früh Ruhm erlangen. Bevor er beschlossen hat, diesen Pol zu erreichen, wollte er einen Kanal durch Mittelamerika bewerkstelligen. Das, woraus später der Panamakanal geworden ist, das wollte er in Nicaragua machen. Seine Geldgeber sind aber abgesprungen, und erst dann hat er sich dem Pol zugewandt. Er wollte etwas finden, was unentdeckt, was unerforscht war, wo er der erste Mensch sein kann, der beansprucht, dort gewesen zu sein.
Peary behauptet, den Pol erreicht zu haben. Das wurde damals schon und wird bis heute bestritten. Zu dem, was er von Grönland mitbrachte, gehörten auch sechs Ureinwohner. Die Inuit erlitten in den USA ein schreckliches Schicksal. Nur zwei überlebten. Einer von ihnen war Minik. Was hat Sie so an ihm fasziniert?
Franzobel: Mich hat vielleicht die Zerrissenheit interessiert, diese Problematik der Migration, des Heimatlosen. Er wird als Zehnjähriger rausgerissen, kommt in eine für ihn völlig fremde Kultur, findet sich da am Anfang überhaupt nicht zurecht. Irgendwann beginnen auch die Verantwortlichen, die Verantwortung abzuschieben. Sie wollen mit all dem nichts mehr zu tun haben und wollen ihm keine Ausbildung finanzieren. Sie sind ganz froh, dass ein kleiner Gauner, der im Museum beschäftigt war und dann rausgeschmissen worden ist, sich um ihn kümmert.
Minik ist in Amerika auch vielfach betrogen worden. Man hat ein Scheinbegräbnis seines Vaters inszeniert: Tatsächlich waren das nur Bretter, die mit Steinen zugedeckt worden sind. Man hat ihm sehr viele Versprechungen gemacht, dass er wieder zurück nach Grönland kann. Das hat man sehr lange Zeit nicht eingehalten. Dann ist es ihm doch irgendwann nach fast zwei Jahrzehnten geglückt, wieder nach Grönland zurückzukommen, nur um festzustellen, dass er die Lebensweise nicht mehr kennt und die Sprache vergessen hat. Er kennt seine wenigen verbliebenen Verwandten nicht. Er ist ein völlig Fremder in dieser Kultur, die er immer als Heimat betrachtet hat, und will dann wieder zurück nach Amerika.
Es ist also eine richtig zerrissene Biografie, die der arme Mensch erlebt hat. Und trotzdem war er mir irgendwie sympathisch. Ich habe ihn doch sehr früh ins Herz geschlossen und bin froh, dass er am Ende des Buches noch so etwas wie Erfüllung finden konnte. Wobei ich mich auch da an die reale Biografie gehalten habe.
Sie schreiben vorweg: "Wahren Begebenheiten nachempfunden". Wie viel ist an Ihrem Roman Fakt und wie viel Franzobel?
Franzobel: Ich habe schon versucht, alles Material, das verfügbar ist, zu lesen, und habe mich erst einmal sehr detailliert an die Fakten gehalten. Aber wie es beim Schreiben so ist: Im Laufe des Schreibens verselbständigt sich das. Man merkt, dass manche Motive stärker werden, und irgendwann löse ich mich von den Fakten. Und am Ende weiß ich gar nicht mehr genau, ob ich das erfunden oder ob ich das irgendwo gelesen habe. Ist das Fakt oder ist das einfach meine Fantasie? Weil der Roman dann doch letztlich irgendwie eine eigene Wirklichkeit beansprucht.
Das Gespräch führte Jürgen Deppe. Das komplette Interview hören Sie oben auf dieser Seite - und in der ARD Audiothek.
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