Bildschöne Bücher: Prachtvolles Porträt der Neuen Sachlichkeit
Das Pariser Centre Pompidou widmet der Neuen Sachlichkeit eine eigene Ausstellung, ergänzt um Fotografien von August Sander. Zur Schau ist ein Bildband erschienen.
Ob Filme, Serien oder Bücher - die 1920er-Jahre sind in den 2020er-Jahren wieder sehr populär. Mal geht es um die politischen Entwicklungen der Weimarer Republik, mal um die gesellschaftliche Liberalität. Und soziale Missstände oder sexuelle Freizügigkeit waren schon vor 100 Jahren ein großes Thema für Künstler und Fotografen. Die Wirklichkeit möglichst realitätsnah abzubilden, wurde letztlich zu einer eigenen Kunstströmung - genannt "Neue Sachlichkeit".
Ausdrucksstarke Arbeiten der 1920er-Jahre
Auf einer schweren, mahagonifarbenen Kommode mit goldenen Beschlägen thront - titelgebend für Rudolf Dischingers Ölgemälde - ein aufgeklapptes Grammophon. Durch ein Fenster fällt Licht in den Raum und blitzt auf der sich drehenden Schellack-Platte. Die floral gemusterte Tapete, ein gusseiserner Beistelltisch mit Zimmerpflanzen in beigen Blumentöpfen - alles wirkt trotz der Musikquelle im Zentrum steril, fast eingefroren.
Mehr als 20 Backsteine balanciert ein junger Mann auf einer halbrunden Bretterkonstruktion, die auf seinen Schultern lastet. Er trägt eine Schiebermütze und blickt selbstsicher direkt in die Linse des Fotografen August Sander. Hier steht die schwere Arbeit des 'Handlagers' im Vordergrund der Bildes.
Eine kleinformatige Mischung aus Gouache und Fotomontage des Bühnenbildners Theo Otto zeigt eine Tennisspielerin im langen weißen Kleid. Die rote Spielfläche ist zwar als Platz zu erkennen, doch statt einer weiteren Spielerin steht eine weiße Bank auf der zweiten Feldseite. Zwei riesige Kreise in rot und weiß wirken durch ihren Schattenfall, als seien sie gerade auf dem Spielfeld wie Gemälde auf einer Staffelei abgestellt worden. Der Schiedsrichterstuhl im Hintergrund stützt einen überdimensionalen hölzernen Tennisschläger. Durch dessen Bespannung schaut - wie die Frau als aufgeklebtes Foto - das Publikum dem Match zu.
Ob Dischingers Öl, Sanders Fotografie oder Ottos Bühnenbild für Claude Debussys Ballett "Jeux" - alle Kunstwerke stehen beispielhaft für die abgeklärten, nüchternen und gerade dadurch ausdrucksstarken Arbeiten der 1920er- und frühen 30er-Jahre.
Parallelen zwischen Sanders Fotografien und der Malerei der "kalten Persona"
In zehn Themenbereiche gegliedert, erklären Begleittexte namhafter Kunsthistoriker die Bedeutung der Neuen Sachlichkeit. Zugleich verbinden sie Themen wie "Standardisierung" oder "Rationalität" mit den soziokulturellen Gruppen, die der Fotograf August Sander porträtierte, wie "Der Bauer", "Der Handwerker" oder "Die Künstler".
"So entdecken wir den fruchtbaren Austausch und die engen Beziehungen, wenn nicht gar freundschaftlichen Bande, zwischen August Sander und der Gruppe (…) der Progressiven. (…) Wir erkennen, in welchem Maße seine Porträtkunst über die Charakterisierung eines Individuums anhand von dessen Habitus und äußeren Attributen Parallelen zur Malerei der 'kalten Persona' aufweist", schreiben die Herausgeber im Vorwort.
Eindrucksvoll ist das gemalte und fotografierte Porträt eines Mannes in einer anonymen Großstadt. August Sanders Aufnahme zeigt ihn in schwarzem doppelreihigem Mantel und weißem Hemd mit Fliege, Melone und Handschuhen auf einer menschenleeren Straße. Das gemalte Pendant von Anton Räderscheidt gleicht dieser Fotografie auf frappierende Weise. Die Kleidung stimmt in jedem Detail überein. Der Platz im Hintergrund ist ebenfalls leer. Doch alles ist noch statischer, steifer, reduzierter. Der Mensch wirkt eher wie eine kantige Puppe - eine distanzierte, kalte Persona.
Vielfältige Deutungsmöglichkeiten
Maler und Fotografen dieses Jahrzehnts sahen und porträtierten Menschen und Objekte sachlich und viel nüchterner als Künstler vor ihnen. Mit ihren Werken wollten sie aber auch die Reaktion auf politische Entwicklungen, technischen Fortschritt und ein sich immer weiter beschleunigendes Tempo in der Gesellschaft abbilden.
Selbst auf Bildern, die vermeintlich ausgelassene Party-Szenen zeigen, wie Otto Dix´ Ölgemälde "An die Schönheit", sind die Blicke der Personen skeptisch. Sie erscheinen fast abwesend. Ein Schlagzeuger drischt auf ein Schlagzeug ein, dessen Fell ein Indianer-Häuptling ziert. Der schwarze Drummer guckt geradezu diabolisch. Ein Paar im 20er-Jahre-Dress tanzt hölzern mit geschlossenen Augen. Eine Frau im Vordergrund erscheint als Büste mit irrem Blick. Otto Dix hat sich im Zentrum des Bildes selbst porträtiert. Auch er blickt drein, als würde er dem Betrachter misstrauen. In der Hand hält er einen Telefonhörer - das Symbol der Moderne und zukünftigen Kommunikation.
Die vielfältigen Deutungsmöglichkeiten der hochaufgeladenen Bilder sind bis heute spannend. Die 20er-Jahre gehören zu den kulturell innovativsten des 20. Jahrhunderts. Auf 320 Seiten gelingt es dem Band, die Protagonisten dieser Zeit zu versammeln. Ein prachtvolles Porträt der Neuen Sachlichkeit.
Die neue Sachlichkeit - Deutschland - 1920er Jahre
- Seitenzahl:
- 320 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Zusatzinfo:
- Aus dem Französischen und Englischen von Saskia Bontjes van Beek, Ursula Wulfekamp und Michaela Angermair
- Verlag:
- Schirmer/Mosel
- Bestellnummer:
- 978-3829609449
- Preis:
- 78 €