Bildband: "Giorgio de Chirico. Magische Wirklichkeit"
Giorgio de Chirico wollte in seinen Bildern eine eigene Sicht auf die Welt vermitteln. Von Publikum und Kritikern hat sich der Künstler stets unverstanden gefühlt.
Extreme Raumfluchten, matte Farben - mehr Schatten als Licht. Links ein weißes Gebäude, das aus dem oberen Bildrand hinausführt, in seiner radikalen Perspektive das Auge des Betrachters beinahe zum Horizont katapultiert. Die schwarzen Fensterlöcher und hohen Bögen in der hellen Fassade sind leer.
Von rechts fällt ein starker Schatten über den olivgrünen Platz in der Mitte. Er verbindet rechte und linke Bildseite - verdüstert gleichsam die Komposition. Unten - wie ausgeschnitten - die fast schwarzen Umrisse einer Dampflok. Doch aus dem scherenschnittartigen Gebilde kommt kein Rauch. Alles scheint erstarrt - leblos, sogar tonlos, wenn man das tatsächlich von einem Bild sagen kann.
Unbelebte Stadtlandschaften
In seinem Gemälde "Der beängstigende Vormittag" von 1912 ist Giorgio de Chirico vielleicht am radikalsten in der Umsetzung seines Ideals der "ewigen Gegenwart". Diese Idee ist stark von Friedrich Nietzsche geprägt, dessen Gedanken ihn beeindruckten, ja erschütterten.
Seine Weltsicht, die er in vielen Gemälden zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf die Leinwand bannte, hat viel mit unserer heutigen Situation zu tun, finden die Kunsthistorikerinnen und Kuratorinnen Cécile Debray und Annabelle Görgen-Lammers: "Zu eben solchen, widersprüchlich wirkenden, leeren Plätzen, die sonst in der Alltagserinnerung kaum vorkommen, sehen wir derzeit, über hundert Jahre später erstaunliche Pendants. Die Versuche zur Eingrenzung der Pandemie Covid-19 zwingen die Menschen auf der ganzen Welt zu massiven Einschränkungen ihrer Bewegungs- und Versammlungsfreiheit. Die gestalteten Stadt-Landschaften sind verwaist, denn der öffentliche Raum ist ein potentiell gefährlicher geworden."
Sorgfältige Vorbereitung der Ausstellung
Jahrelang haben die Kuratorinnen vom Pariser Musée d’Orsay und der Hamburger Kunsthalle auf diese Ausstellung über de Chirico hingearbeitet. Texte geschrieben, internationale Expertinnen und Experten eingeladen, um diesen sperrigen Maler, der zudem als der meistgefälschte Künstler des vergangenen Jahrhunderts gilt, greifbar zu machen.
Gefälscht wurde der Maler auch deswegen, weil er in seinen späteren Jahren in schier unübersehbarer Zahl Bilder malte, in denen er seine alten Motive wieder aufnahm und variierte - ein Umstand, der Fälscher beinahe dazu einlud es ihm gleichzutun.
Dazu gehört die kunstgeschichtliche Einordnung seines Werks, ebenso eine umfassende Betrachtung seiner künstlerischen Zeitgenossen, seiner Familie und seiner Vorbilder. Die Jahre seines Schaffens bis zu den 1920er-Jahren stehen dabei im Mittelpunkt. Gilt doch vielen das von wenig neuen Einfällen gekennzeichnete Spätwerk Giorgio de Chiricos als uninspiriert. Einzig einige Lithografien, die Mitte der 1930er-Jahre entstanden sind, haben es in das Buch geschafft. Sie allerdings sind in ihrer Merkwürdigkeit beschreibenswert.
Nach 1930 sind de Chiricos Arbeiten weniger interessant
Von Max Klingers "Accorde" inspiriert sind die Lithografien "Der einsam Badende", "Der geheimnisvolle Zentaur" und "Neptun und Nereide". Alle aus dem Jahr 1934. Hier erweist sich Giorgio de Chirico als verspielter Visionär. In einem mit Wasser gefüllten Becken am unteren Bildrand stehen Badende, bis zur Taille im Wasser. Rechts ist eine Art Badehaus mit Leiter - linkerhand die Quelle, die das Becken speist. In der Bildmitte: das Meer. Eine Leiter führt zum Häuschen hinauf - was den Badenden auch zu wünschen ist, denn das Wasser scheint in einem unerbittlichen Zickzackmuster auf die darin befindlichen Menschen einzustechen, sie mehr aufzuspießen, als sie wogend zu umhüllen. Eine Bildsprache, so modern, als wäre sie aus der Gegenwart.
Nie wollte sich de Chirico künstlerisch in Schubladen stecken lassen. Als - sehr positive - Besprechungen zu seinen ersten Ausstellungen in Paris erschienen, störte er sich daran, dass seine Motive als Bühnenbilder missverstanden wurden. Später wehrte er sich gegen andere Zuschreibungen - wie in diesem raren Interview aus dem Jahr 1971.
Der Künstler fühlte sich häufig missverstanden
"Ich habe nichts zu tun mit den Surrealisten und mit der surrealistischen Malerei. Das haben die Kritiker gesagt. Aber es ist gar nicht wahr. Meine Malerei und alles was ich gemacht habe, geschrieben habe und was ich denke, hat gar nichts zu tun mit Surrealismus." aus "Das Porträt - Giorgio de Chirico" NDR 1971 von Peter D. Malchus.
Der Kosmopolit Giorgio de Chirico wollte - gemeinsam mit seinem Bruder, dem Musiker Alberto Salvinio - eine eigene Sicht auf die Welt vermitteln. Auf die Leere im Stillstand, auf die Magie der Wirklichkeit, auf die unglaubliche Spannung, die entsteht, wenn man den Blick ein kleines bisschen "neben" die Dinge lenkt. Trotz vieler Anfeindungen, trotz vieler Missverständnisse, beharrte er auf seinem Standpunkt. Man kann über diesen Maler streiten, ihn lieben oder auch ablehnen, gleichgültig lässt er einen nicht.
"Meine Kunst und meine Persönlichkeit wird in der Geschichte bleiben. Einige Jahrhunderte. Dann in einigen tausend Jahren wird sie verschwinden. Wie alles." Giorgio de Chirico
Giorgio de Chirico. Magische Wirklichkeit
- Seitenzahl:
- 232 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Zusatzinfo:
- Beiträge von P. Baldacci, C. Girardeau, Annabelle Görgen-Lammers, G. Lista, G. Roos, F. Rovati. 186 Abbildungen in Farbe, 19,5 x 28,5 cm, gebunden
- Verlag:
- Hirmer Verlag
- Preis:
- 34,90 €