Ein Leben als Rebell und Ferienaufenthalte in Deutschland
Rabenschwarz, sarkastisch, schockierend: Arnon Grünberg macht keinen Halt vor Tabus, wirft auch in seinem bereits 2002 in den Niederlanden und jetzt in Deutschland erschienenen Roman "Gstaad" einen tiefen Blick in menschliche Abgründe. Ein Interview.
Mit 23 veröffentlichte Arnon Grünberg seinen Debütroman "Blauer Montag", der sofort zum internationalen Erfolg und preisgekrönt wurde. Ungeheuer produktiv ist der in Amsterdam und New York lebende Schriftsteller, dessen Texte in fast 30 Sprachen übersetzt wurden. Über "Gstaad", das Schreiben, über philosophisch hochkarätige Begriffe wie Moral, Pflicht und das Dulden von vermeintlich unvermeidbaren Situationen, darüber spricht Arnon Grünberg in "NDR Kultur à la carte".
Das Buch "Gstaad" ist eins, das menschliche Abgründe ausleuchtet und an Tabus rüttelt. Im Mittelpunkt des Romans steht ein obsessives Mutter-Sohn-Verhältnis. Es geht um die Lebensgeschichte des jungen François Lepeltier. Seine Mutter, ein Zimmermädchen mit kleptomanischen Anwandlungen, zieht François in der Pension Sonnenhügel in Baden-Baden auf. In Stuttgart gibt er sich als Zahnarzt aus, bevor er als Portier und Skilehrer reüssiert - Etappen auf dem Weg zum Gipfel seiner Karriere, in denen François einen anderen Weg als seine Mutter einschlägt.
Arnon Grünberg: Auch in gutbürgerlichen Familien gibt es Söhne und Töchter, die eine andere Richtung einschlagen, aus verschiedenen Gründen und auch aus Rebellion. Denn das Gutbürgerliche und das Spießige sind nicht immer so weit auseinander. Sie haben mich einen Rebellen genannt, das bin ich eigentlich erst später in der Pubertät geworden. Ich war ziemlich scheu. Aber an einem gewissen Punkt wollte ich etwas anderes machen als von mir erwartet wurde. Man hat immer gedacht, ich werde Anwalt oder Zahnarzt und das wollte ich nicht. Ich wählte eine andere Richtung aus. Dann dachte ich, wenn ich in diese Richtung gehe, wozu soll ich noch auf das Gymnasium gehen? Und so habe ich mir auch Mathilde vorgestellt. Man merkt das, wie die Großeltern von François, die Eltern von Mathilde, beschrieben sind. In meinem Buch spürt man irgendwie, dass das auch ein Gefängnis ist. Und jeder will aus dem Gefängnis.
Sie haben schriftstellerisch mehrfach die Mutter als Thema aufgegriffen. 2016 erschien Ihr Roman "Muttermale", im selben Jahr die Erinnerungen Ihrer Mutter Hannelore Grünberg-Klein. Ihre Mutter hat die Grauen des Holocaust erlebt, hat Westerbork, Theresienstadt, Auschwitz und Mauthausen überlebt. Konnten Sie mit ihr darüber sprechen?
Grünberg: Sprechen, würde ich nicht sagen. Ich habe mich auch nicht getraut, Fragen zu stellen. Aber meine Mutter hat mir erzählt, dass mein Vater, der auch den Krieg überlebt hat, immer sehr viel geschwiegen hat. Aber sie hat nebenbei in diesem Plauderton erzählt und immer gesagt, für ein Kind ist alles selbstverständlich. Ich glaube, das stimmt. Sie hat oft gesagt, dass sie erst die Hoffnung nach dem Krieg verloren hat. Und zwar dann, als sie erfahren hat, dass ihre Eltern ermordet wurden. Das war für sie ein Punkt, wo alles gekippt ist. Ich habe sie mal ironisch, meine Muse genannt, sie war unheimlich wichtig für mich und hatte sehr viel Humor. Sie war außergewöhnlich, ohne dass sie das wollte. Sie wollte sich immer assimilieren und so sein wie die anderen. Aber obwohl sie das sehr gern gemacht hat, und das war ihre Ambition, war sie doch irgendwie anders. Das hat auch damit angefangen, dass wir in Holland wohnten und meine Eltern eigentlich aus Deutschland kamen und in vielen Bezügen sehr deutsch waren.
Sie haben Ihre Ferien auch immer in Deutschland verbracht.
Grünberg: Das stimmt. Wir sind immer in Süddeutschland gewesen und in die Berge gefahren. Wir waren in Oberbayern und oft im Schwarzwald. Das war für ein Kind nicht unbedingt das Schönste. Vor allem als die anderen Kinder in meiner Klasse, Ende der 1970er-Jahre, Anfang der 1980er-Jahre erzählt haben, dass sie in Frankreich, Italien und oft noch weiter weg waren. Ich kam damals wieder und dachte, das spießige Süddeutschland und die deutschen Kurorte. Aber für mich waren die Kurorte auch faszinierend. Es war nicht nur der Schrecken, es war irgendwie auch etwas Schönes und etwas, was ich nicht ganz verstanden habe. Das war auch ein Grund für diesen Roman, darüber wollte ich schreiben. Aber es geht auch um die Hotels und die Pensionen, wo wir vier oder fünf Wochen wohnten. Das war eine fremde Atmosphäre. Es war nicht wie ein Hotel, wo alles anonym ist. In einer Pension kannte man jeden. Es war eigentlich eine Grenze zwischen Freundschaft und dem Mieten eines Zimmers. Ich fand, das war eine andere Zeit.
Das Gespräch führte Claudia Christophersen.