Christian Wulff: "Frieden und Demokratie sind nicht selbstverständlich"
Der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff spricht bei "NDR Kultur à la carte" über seine Osnabrücker Heimat und sein Verständnis von Demokratie in Zeiten globaler Krisen.
In der Heimatstadt von Christian Wulff wurde im Oktober 1648 der Westfälische Frieden geschlossen. Seither gilt Osnabrück als Friedensstadt. Im Angesicht von Kriegen und Krisen erklärt der ehemalige Bundespräsident, was aus seiner Sicht eine stabile Demokratie benötigt und was Deutschland von dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj lernen kann.
Sie sind in Osnabrück geboren und aufgewachsen, haben dort studiert und als Rechtsanwalt gearbeitet. Was bedeutet Ihnen persönlich die Friedensstadt?
Es gibt keine bessere Beschreibung als das Wort Heimat. Heimat ist dort, wo man zu jedem Platz, zu jedem Ort, eine Erinnerung hat und etwas erzählen kann. Es gibt ein Monopoly-Spiel zur Stadt Osnabrück und meine ganze Familie ist genervt, wenn wir das spielen, weil mir zu jeder Straße etwas einfällt. Die Stadt ist mir vertraut, die Leute kennen mich. Und sie wissen, dass ist unser Christian, den kannten wir schon als kleinen Jungen, als er hier durch die Straßen lief - und jetzt ist er halt ehemaliger Bundespräsident. Und natürlich bin ich stolz darauf, dass diese Stadt gemeinschaftlich zwischen allen Demokraten das Thema Frieden gegen den Hass und für Verständigung wirklich ernst nimmt.
2019 waren sie als ehemaliger Bundespräsident bei der Amtseinführung des ukrainisches Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew. Welchen Eindruck hatten sie damals, vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, von ihm?
Ich habe ganz konkrete Erinnerungen an diesen Tag. Es gab diese enorme Erwartung der Bevölkerung. Selenskyj hatte im zweiten Wahlgang eine Zustimmung von über 70 Prozent. Schon auf dem Weg ins Parlament spürte man diese großen Hoffnungen. Außerdem spürte man, dass sich die Ukraine bereits im Krieg befand, durch die Okkupation im Osten und auf der Krim. Selenskyj ist nicht nur Schauspieler, Filmemacher und Komödiant, sondern er ist ausgebildeter Jurist. Er ist dann über die Medien gegangen und hat Inhalte gemacht. In der Fernsehserie "Diener des Volkes" hat er den Präsidenten gespielt. Danach beweist er, dass er wirklich der Diener des Volkes ist - sehr eindrucksvoll. Vor der Wahl hatten einzelne Fernsehsender diese Serie und außerdem einen Western gespielt, in denen der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan mitspielt. In diesem Western ist Selenskyj die Synchronstimme von Ronald Reagan. Das war schon im ersten Moment gewöhnungsbedürftig. Jetzt kommt ihm das kommunikative Talent zugute. Er schafft es, die Menschen immer wieder zu erreichen, zu fesseln und anzusprechen. Etwas, das uns in Deutschland gerade so wahnsinnig fehlt.
In zehn Jahren haben wir das Gedenkjahr zum hundertsten Jahrestag des Beginns der NS-Herrschaft. Können wir uns sicher sein, dass so etwas nie wieder passiert?
Nichts von dem, was wir heute genießen und als selbstverständlich ansehen, kam von allein, und nichts ist automatisch von Dauer. Es war das Bemühen bestimmter Politikerinnen und Politiker, die Europäische Union zu gründen, eine gemeinsame Währung einzuführen, den gemeinsamen Binnenmarkt zu gestalten und Probleme gemeinsam anzugehen. Der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy hat jüngst gesagt, eigentlich hat das 21. Jahrhundert noch gar nicht begonnen, indem wir zusammenarbeiten müssen. Stattdessen haben wir die Dämonen des 19. und 20. Jahrhunderts noch nicht besiegt, nämlich Nationalismus, Populismus und Protektionismus.
Wir laufen Gefahr, aus der Geschichte nur unzureichend zu lernen - und was wir gelernt haben, zu vergessen. Wir machen uns nicht deutlich genug, dass Demokratie sehr brüchig ist. Diktatoren setzen ihre Sicherheitsapparaturen ein, zur Erhaltung ihrer Macht. Wir setzen die Polizei ein, um auch die Gegner der Demokratie zu schützen. Diese können sogar Fake News verbreiten, ohne dass es strafbar wäre, weil es Teil der freien Meinungsäußerung ist. Das ist ein Problem der Demokratie: Sie hat keine Sicherheitsapparatur, sondern sie hat die Bürgerinnen und Bürger. Wenn darunter nicht ausreichend Demokraten sind, überlässt man den Rändern das Geschehen. Das ist der Auftrag, den wir jungen Leuten mitgeben müssen: Jede Generation muss für die eigene Zeit die Bedingungen schaffen, unter denen sie leben will.