100 Jahre "Der Zauberberg": Wer liest den Klassiker heute noch?
Thomas Manns "Der Zauberberg" hat etwa 1.000 Seiten, erschien vor 100 Jahren und zählt zu den Klassikern deutschsprachiger Literatur. Aber wer liest das Buch heute noch? Eine Reportage aus einer Hamburger Buchhandlung.
Zu Besuch in der Buchhandlung Lüders in Hamburg-Eimsbüttel. Überall Bücher, wohin das Auge reicht. Bücher bis an die Decke. Draußen der Trubel der Hamburger Osterstraße - drinnen duftet es nach Kaffee und auch ein bisschen nach staubigem, altem Papier. So riechen wohl richtige Klassiker. Buchhändlerin Sinje Hansen weiß, wo alles steht. Den "Zauberberg" von Thomas Mann muss sie nicht lange suchen: "Den verkaufen wir nämlich noch besser als die 'Buddenbrooks'. Wie viel Exemplare wir da wohl verkauft haben?" Sinje Hansen tippt auf ihrem Computer und findet heraus, dass es pro Monat einmal verkauft wird. Die Angaben sind ungefähr, weil nicht alle Ausgaben im System stehen. "Aber das ist nicht schlecht für den Klassiker. Zusätzlich kommen die antiquarischen Exemplare hinzu - und das sind mehr."
"Die antiquarischen" sind die wertvollsten Ausgaben. Auf eine ist die Buchhändlerin besonders stolz. Dafür muss Sinje Hansen weit hinauf steigen. Zwar nicht so hoch, wie die Romanfigur Hans Castorp, aber immerhin bis ans obere Ende des Bücherregals. "Ich hole mal eine Leiter. hier, zum Beispiel in der Ausgabe: Bei Fischer gibt es natürlich auch den 'Zauberberg'. Den haben wir jetzt gerade verkauft. Das ist eine superschöne Frankfurter Ausgabe, ein tolles Format mit schönem Papier. Schauen Sie mal, die sind richtig gut erhalten."
"Der Zauberberg" ist aktuell - damals wie heute
Während Sinje Hansen noch auf der Leiter steht, kommt eine Kundin herein. Franziska Voigt kauft den Roman für ihren Mann. Sie hatte sich vorgenommen, den "Zauberberg" zum 100. Jubiläum noch einmal neu zu entdecken und suchte nur noch nach dem passenden Anlass, wie sie sagt: "Ich habe den schon vor vielen, vielen Jahren gelesen. Aber mein Mann ist gerade krank und wir haben alles von Thomas Mann. Aber den 'Zauberberg' hatten wir nicht", so Voigt. Diesen wolle er jetzt gerne lesen, weil er genug Zeit habe.
Je nach Ausgabe kommen bei Thomas Manns "Zauberberg" schon mal 1.000 Papierseiten zusammen. Ein ganz schön dicker Wälzer. Warum tut man sich das heutzutage noch an? Für Kundin Franziska Voigt sind die Themen hochaktuell: "Viele sagen, dass wir jetzt viele Parallelen zu den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts sehen - die Radikalisierung und das Aufeinandertreffen politischer Strömungen. Ob die Erzählweise noch so aktuell ist? Es gibt viele Kritiker, auch von Thomas Mann. Aber ich würde sagen, auf jeden Fall."
Hans Castorp verbringt sieben Jahre im Schweizer Sanatorium
Thomas Mann erzählt die Geschichte von Hans Castorp, einem jungen Hamburger, der in einem Schweizer Sanatorium für Lungenkranke landet. Geplant ist ein kurzer Besuch, doch am Ende bleibt er sieben Jahre. Es geht aber nicht nur um Krankheit und Genesung, sondern um viel mehr: um Gesellschaft, Zeit und die Frage, wie man leben soll. Der Roman war bei seiner Veröffentlichung 1924 ein großer Publikumserfolg. Schon nach vier Jahren hatte er eine Auflage von 100.000 Exemplaren erreicht. Als er vor 100 Jahren erschien fiel er in eine Zeit weitreichender gesellschaftlicher Umbrüche. Sind denn die gesellschaftlichen Themen heute noch so aktuell wie vor 100 Jahren?
Ein Anruf bei Oliver Fischer von der Thomas-Mann-Gesellschaft Hamburg. Der meint: "Das ist ja das Porträt einer Gesellschaft, die nur noch schreiend miteinander reden kann, die nicht mehr Argumente austauscht, sondern mit großer Aggressivität aufgeladen ist." So weit sei es derzeit allerdings noch nicht. "Diese politischen Morde, die es gegeben hat, dieses Grundmisstrauen in Demokratie, das haben wir heute in deutlich weniger ausgeprägtem Maße als die Weimarer Republik." Doch selbst Fischer bestätigt, dass viele erstmal von der Länge und den komplexen Themen eingeschüchtert seien. Es ist ein Roman, dem man schon ansieht, dass er die "großen Fragen" behandelt.
Junge Leute haben Lust auf Klassiker
Zieht das auch bei jüngeren Lesern? "Ich kann mir vorstellen, dass für viele Jugendliche heute 'Der Zauberberg' mit seinen 1.000 Seiten eine Überforderung ist. Vielleicht fängt man besser bei anderen Thomas Mann-Werken an". Er habe auch Novellen geschrieben, "die deutlich kürzer und vielleicht auch klarer sind", so Fischer.
Eine Tatsache, die Buchhändlerin Sinje Hansen so nicht bestätigen kann: "Das ist nicht wahr. Wir haben hier so viele junge Leute, die Lust haben auf Klassiker. Die Voraussetzung ist, dass man so viele Seiten lesen mag. Wenn man den Anfang hat und eintaucht in diese Welt und fasziniert ist, dann bleibt man dran. Aber man muss einfach Lust haben auf viel Buch." Lust haben auf "viel Buch" - und dann Hochaktuelles entdecken. Vielleicht ist das das Geheimnis von Klassikern. Sie schaffen es, immer wieder neue Generationen anzusprechen, wenn sie die großen Fragen des Lebens aufgreifen.