Zum 200. Geburtstag: "Dostojewski war vor allem Humanist"
Vor 200 Jahren wurde der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski geboren, der menschliche Seelen ausleuchten konnte wie kein zweiter. NDR Kultur Redakteur Jan Ehlert ist ein glühender Fan von Dostojewski.
Jan, kannst Du Dich noch daran erinnern, wie Du das erste Mal mit Dostojewski in Berührung gekommen bist?
Jan Ehlert: Ja, vor allem habe ich eine Lieblingsfigur aus "Schuld und Sühne": Rodion Romanowitsch Raskolnikow. Mein Großvater hatte eine Werkausgabe von Dostojewski im Regal, und ich bin als Jugendlicher eine ganze Zeit lang um dieses Buch herumgeschlichen und fand diesen Titel, "Schuld und Sühne", eine ganze Weile schon sehr ansprechend - immer dann, wenn ich wegen irgendwas ein schlechtes Gewissen hatte. Und dann habe ich eines Tages angefangen es zu lesen - und war von Beginn an gefesselt. Es gibt da dieses Dilemma: Raskolnikow ist arm, er könnte so viel schaffen, aber vor Hunger und Schwäche fehlt ihm die Energie zu allem. Und dann fasst er den Plan, eine alte, geizige Frau umbringen, um von dem Geld ein besseres Leben zu führen. Und wie Dostojewski das beschreibt - die Armut auf der einen Seite, wie dann langsam der Vorsatz entsteht, dann der Mord selbst, und dann die Zweifel, die Verzweiflung, weil er mit dieser Schuld nicht leben kann, wie Raskolnikow, der nicht an Gott glaubt, sich am Ende trotzdem zu ihm flüchtet - das ist psychologisch unglaublich toll beschrieben, das können nur wenige Autoren. Und seitdem bin ich Fan.
Dieses Psychologische ist das, was Dostojewski ausmacht. Er ist aber auch eine sehr ambivalente Figur, weil er umgekehrt auch ein großer Nationalist mit sehr eigentümlichen Ansichten gewesen ist. Wie passt das zusammen?
Ehlert: Naja, jeder Autor ist ein Kind seiner Zeit. Man sollte nicht überbewerten, was er vielleicht auch mal gesagt hat. Auch Thomas Mann war lange Zeit Patriot, hat zum Ersten Weltkrieg euphorische Dinge gesagt, die wir heute nicht mehr gutheißen - und trotzdem ist er ein großer Menschenkenner. Ich sehe da also keinen Widerspruch. Denn ja, Dostojewski wandte sich ganz deutlich gegen den Westen. Den Kapitalismus, den Hedonismus hat er aus tiefstem Herzen abgelehnt - aber das russische Zarentum auch. Er gehörte als junger Schriftsteller zu dem Petraschewski-Zirkel, hat kritische Texte gegen Zar Nikolaus verfasst und wurde deswegen verhaftet, vom Zar sogar zum Tode verurteilt. Er stand auf dem Hinrichtungsplatz, wartete auf das Erschießungskommando - und dann die Begnadigung, vier Jahre Zwangsarbeit. Über diese Zeit hat er einen ergreifenden Bericht aus dem Totenhaus geschrieben, wo er merkte, dass es nicht die Reichen waren, sondern oft arme Menschen, die den Verurteilten mit Wärme begegneten und ihnen Essen zusteckten.
Aus dieser Erfahrung heraus entstand auch die Art, wie er über die Armen und Schwachen schreibt - nicht umsonst heißt eines seiner Bücher "Erniedrigte und Beleidigte". Diese Wärme, mit der er den Ausgestoßenen, den Waisenkindern, den Prostituierten eine Stimme gibt, zeigt, dass er vor allem Humanist war. Er war gegen Systeme, aber nie gegen Menschen. Deswegen kann man seine Romane aus meiner Sicht bedenkenlos lesen.
Was macht seine Prosa heute noch so lesenswert?
Ehlert: Ich glaube, dass Dostojewski ganz nah bei seinen Menschen ist. Er verrät sie nicht, er hat für die Spötter genauso Sympathie wie für die Barmherzigen und die Guten. Er war selber eher ein armer Schriftsteller. Anders als Tolstoi oder Puschkin hatte er nicht das Geld - erst in den letzten Jahren seines Lebens -, sondern lebte selber in prekären Verhältnissen. Denn nicht immer kann man sagen, dass das schwarz und weiß ist - ganz besonders in seinem Roman "Die Brüder Karamasow": Da gibt es den Intellektuellen Iwan Karamasow, den Soldaten Dimitri und den Geistlichen Aljoscha. In diesem Buch werden durch die drei Protagonisten eigentlich alle Menschheitsthemen behandelt. Das Meiste spielt sich dabei in Dialogen ab: Menschen, die miteinander ringen und um die ganz essentiellen Fragen diskutieren: Gott, Geld, Liebe, Moral. Und trotzdem ringen sie respektvoll. Auch das ist etwas, was wir heute wieder von Dostojewski lernen können: Auch wenn wir noch so unterschiedliche Ansichten haben, müssen wir uns nicht anfeinden, sondern können darüber sprechen, Argumente austauschen, ohne auf ein "Ich hab aber Recht" zu bestehen. Das kann man sich gut von ihm abschauen. In dem Sinne könnten wir alle ein bisschen mehr Dostojewski sein.
Das Gespräch führte Jürgen Deppe