Svenja Flaßpöhler: Sensibilität ist ein Fortschrittsindikator
Viele Menschen klagen über Erschöpfung. Sind wir zu sensibel und nicht mehr resilient genug? Über die positiven und negativen Aspekte von Sensibilität spricht Svenja Flaßpöhler im Podcast Tee mit Warum.
Warum sind wir so erschöpft? Was hat Sensibilität damit zu tun? Damit setzt sich Svenja Flaßpöhler in ihrem Buch "Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren" auseinander. Die Philosophin und Publizistin ist Chefredakteurin des "Philosophie Magazin". Sie sagt: Sensibilität ist ein Fortschrittsindikator für Gesellschaften. Doch es gibt einen Kipppunkt, ab dem Sensibilität der Solidarität entgegensteht. Einen Auszug des Gesprächs lesen Sie hier, das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.
Frau Flaßpöhler, sind Sie der Meinung, dass es heute eine zu starke Betonung von Sensibilität und Erschöpfung gibt? Ich habe den Eindruck, dass Sensibilität, Erschöpfung oder Burnout sehr häufige Themen sind, gerade im Social-Media-Bereich. Wie sehen Sie das?
Svenja Flaßpöhler: Ich glaube, das sind zwei Phänomene. Nicht jede Erschöpfung geht auf eine erhöhte Sensibilität zurück. Wenn wir über Sensibilität sprechen, muss man sehen, dass das ein sehr komplexes Phänomen ist. Auf der einen Seite sagen wir: "Ach, du kleines Sensibelchen. Na, du hältst ja überhaupt nichts aus." Für meinen Begriff ist das sehr abwertend. Auf der anderen Seite ist die Sensibilität ein ganz wichtiger Fortschrittsindikator von Gesellschaften. Das heißt, je fortschrittlicher, je aufgeklärter Gesellschaften sind, desto sensibler sind ihre Mitglieder für die Grenzen der anderen, aber auch für die eigenen Grenzen.
Wenn wir uns mit der Ritterwelt des 11. Jahrhunderts vergleichen, werden wir wenig Gemeinsamkeiten erkennen. Das heißt, die Sensibilität hat in vielerlei Hinsicht zugenommen. Es gibt verschiedene Dimensionen der Sensibilität. Es gibt zum Beispiel eine ethische Sensibilität. Damit ist so etwas gemeint wie Empfindsamkeit. Das bedeutet, dass ich mitfühlen kann, dass ich mitleiden kann. Das war gerade im 18. Jahrhundert eine ganz entscheidende Errungenschaft, auch in der Literatur. Sie kennen die Literatur der Empfindsamkeit, dass man lernen kann, mitzuleiden. Es gab damals die Romane von Samuel Richardson und Jean-Jacques Rousseau, in denen es um leidende Frauenfiguren ging. Auf einmal haben auch Männer mit diesen Frauen gelitten.
Das hat den Fortschritt vorangetrieben. Denn in dem Augenblick, in dem Menschen empfindsam sind für das Leid von anderen, erkennen sie sich auch im anderen wieder. Das hat den Gleichheitsgedanken, der ganz entscheidend ist für aufgeklärte Gesellschaften, ganz klar vorangetrieben. Insofern ist das erstmal ein ganz klarer Fortschrittsindikator. Gleichzeitig gibt es in vielfacher Hinsicht auch eine Kehrseite der Sensibilität, nämlich dahingehend, dass wir uns nur noch ganz schwer abgrenzen können vom Leid der anderen. Was natürlich gerade in unserer heutigen Medienwelt zu einem richtigen Problem werden kann. Denn anders als noch die Menschen im 18. Jahrhundert bekommen wir heute über Social Media buchstäblich so gut wie alles mit.
Georg Simmel hat den Begriff der Blasiertheit gebraucht. Man braucht fast eine gewisse Blasiertheit, eine gewisse Arroganz oder Ignoranz. Man kann sich nicht das ganze Leid der Welt auf die eigenen Schultern packen. Das ist so ein Abgrund der Sensibilität. Auch die Aggressivität und die Reizbarkeit stecken in der Sensibilität. Das kann man bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Man hat immer schon zwei verschiedene Weisen des Sensibelseins unterschieden: Einmal dieses empfindsame, mitfühlende Sensibilität und dann auf der anderen Seite diese Reizbarkeit der Nerven. Und wer reizbar ist, ist sehr schnell auch aggressiv. Das kann man heute wunderbar in den sozialen Netzwerken beobachten. Mir kommt es darauf an, dass man die Sensibilität in ihrer ganzen Ambivalenz betrachtet.
Ich würde gern auf Ihren Punkt zurückgreifen, dass man durch das Mitfühlen gesellschaftliche Benachteiligung erkennt. Es gibt heute eine Stelle, an die sich Schauspielende wenden können, wenn sie Opfer von Machtmissbrauch werden. Das ist etwas, was MeToo bewirkt hat. Sensibilität macht nicht unbedingt hilflos, sondern kann eine Entwicklung mit sich bringen. Würden Sie dem zustimmen?
Svenja Flaßpöhler: Das ist genau das, was ich in meinem Buch zu zeigen versuche. Die Historikerin Lynn Hunt hat herausgearbeitet, inwiefern diese Empfindsamkeit - Literatur und das Bewusstsein für die Kraft der Empathie - mitgewirkt hat am zivilisatorischen Fortschritt. Natürlich geht es um Strukturen und es geht nicht nur um Einzelfälle. Aber ich glaube nicht, dass MeToo die Wucht entwickelt hätte, wenn es nicht immer auch dieses Moment der Empathie gegeben hätte, dass man in irgendeiner Form mit diesem Leid der Frauen mitfühlt. Wenn einem dieses Mitgefühl komplett fehlt, dann hätte man sich auch nicht solidarisiert.
Sie schreiben, dass eine verabsolutierte Sensibilität nicht unbedingt zu mehr Solidarisierung führe, sondern eher das Gegenteil bewirken könnte, nämlich eine Zersplitterung der Gesellschaft. Können Sie das erklären?
Svenja Flaßpöhler: Das ist eine der Kehrseiten oder der Kipppunkte der Sensibilität. Eigentlich ist Sensibilität ein Fortschrittsindikator. Aber wenn wir sehr sensibel sind für die eigenen Grenzen, für die eigene Vulnerabilität, für die eigene Verletzlichkeit, kann das dazu führen, dass man sich nicht mehr einigen kann, dass man sich nicht mehr zusammenschließen kann, dass man sich möglicherweise auch gar nicht mehr solidarisieren kann.
Das merken Sie, wenn Sie abends Gäste zu sich nach Hause einladen und kochen. Sie kochen einen leckeren Eintopf und Sie machen ein bisschen Crème fraîche hinein. Dann kommt einer und sagt, er sei Veganer, und der andere sagt, er mag keine Bohnen. Und der Dritte sagt, ich vertrage dies und jenes nicht. Da merkt man schon, es wird schwierig, wenn wir alle sehr sensibel sind. Je sensibler wir werden, desto schwerer ist es, sich noch in Gruppen zusammenzufinden.
Die Fragen stellten Denise M'Baye und Sebastian Friedrich. Das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.